Wer Liebe verspricht
verrieten keine Anzeichen von Reue.
»Sie kommandiert weder dich noch mich herum«, erwiderte Olivia scharf. »Sie hat ihre Prinzipien wie jeder andere auch. Das ist alles.« Olivia hatte nicht vor, Estelle zu verraten, daß sie manche Prinzipien ihrer Tante absurd fand.
»Prinzipien, pah !« Estelle zog einen Schmollmund und blickte nachdenklich auf eine Orange. »Für dich ist das ganz schön und gut, du wirst nur ein Jahr darunter leiden. Ich muß mich mein Leben lang damit abfinden!«
»Nur falls du dich dafür entscheidest, eine alte Jungfer zu werden, und das kann ich mir nicht vorstellen!« Olivia grinste.
Estelle schüttelte verächtlich die flachsblonden Locken und tauchte den Pinsel in die leuchtendrote Farbe. »Ich werde dafür sorgen, daß es nicht soweit kommt! Wenn ich achtzehn bin, tu ich, was mir paßt, darauf kannst du Gift nehmen!«
»Du tust heute schon so ziemlich alles, was dir paßt.«
»Nicht so wie Polly. Ihre Mutter erlaubt ihr zum Beispiel, Lippenpomade und Wimperntusche zu benutzen und mit ihren Verehrern zu Burra khanas zu gehen.« Estelle schob die Aquarellfarben von sich, griff nach der Orange und begann mißmutig, sie zu schälen. »Onkel Sean hat dich nie herumkommandiert, oder? Kannst du dir vorstellen, daß Papa mir erlauben würde, einen Colt zu tragen, oder daß er mich auf einen Treck im Planwagen mitnehmen würde?« »In Indien macht man keine Trecks mit dem Planwagen«, gab Olivia zu bedenken.
Estelle wischte diesen Umstand mit einer Handbewegung beiseite. »Onkel Sean hat dich immer als Erwachsene behandelt. Warum können sie mich nicht auch so behandeln? Mir wird nicht einmal erlaubt zu essen, was und wann ich will, ohne daß Mama ein Theater macht.« Sie starrte wütend auf die Orangenschnitze, verschlang sie alle auf einmal und spuckte die Kerne trotzig aus dem Fenster.
»Trotzdem tust du es«, bemerkte Olivia trocken. »Du bestichst Babulal, und was du bei Tisch nicht haben kannst, läßt du dir später von ihm in der Küche geben. Glaube ja nicht, ich hätte die Keksdosen unter deinem Bett nicht gesehen.«
»Ich werde doch nicht zulassen, daß Mama mich verhungern läßt, so wie sie versucht, mich zu unterdrücken. Ich wette, Onkel Sean hat nie …«
»Wir sind unter völlig verschiedenen Umständen aufgewachsen, Estelle«, unterbrach sie Olivia, der die hartnäckige und unangebrachte Bewunderung ihrer Cousine immer Unbehagen bereitete. Estelle war liebenswert, obwohl sie ihre Cousine auch zur Verzweiflung bringen konnte. Aber Olivia wollte sich nicht vorwerfen lassen, sie habe ihre Estelle gegen ihre Eltern aufgehetzt. Sie wechselte deshalb rasch das Thema. »Sag mal, ist Onkel Josh wirklich sicher, daß das Schiff planmäßig einläuft? Stell dir vor, dein neues Kleid kommt nicht rechtzeitig!?«
Schlagartig waren alle Probleme vergessen, und Estelles Miene hellte sich auf. »Papa hat es versprochen, und er wird nicht zulassen, daß mich jemand enttäuscht. Ach Olivia …«, überwältigt von dem plötzlichen Stimmungsumschwung jubelte sie, nahm Clementine, den kleinen Spaniel, in die Arme und drückte ihn an sich. Dann sagte sie mit einem Seufzer: »Ich würde es nicht überleben, ganz einfach nicht überleben, wenn jetzt noch etwas schiefgehen sollte. Ich könnte der blöden Charlotte Smithers nie mehr unter die Augen treten, nach allem, was sie zu Jane über mein Ensemble gesagt hat. Weißt du, was Jane gesagt hat? Sie hat doch tatsächlich die Frechheit besessen, Mrs.Cleghorne zu sagen, die es sofort Marie erzählt hat, die es wiederum Polly gesagt hat, daß …«
Olivia schloß die Augen und hörte nicht mehr zu. Sie war zufrieden, daß Estelle nun ihre ganze Energie auf den kommenden wichtigsten Tag ihres Lebens richten würde – auf den achtzehnten Geburtstag im nächsten Monat und den geplanten Ball, mit dem sie in die Gesellschaft eingeführt wurde. Olivia ließ den Schwall bekannter Klatschgeschichten, die ihre aufgeregte Cousine erzählte, über sich ergehen, ohne darauf zu achten. Estelle gab sich mit ihren einsilbigen Bemerkungen auch völlig zufrieden.
Ein Jahr. Zwölf Monate.
Dreihundertfünfundsechzig Tage – weniger (erst!) sechzig …
Unter dem beruhigenden Geplätscher von Estelles Klatsch überließ sich Olivia dem vertrauten Strom der eigenen Gedanken. Wie würde sie die dreihundertundfünf restlichen Tage ihres Exils überleben? Das Jahr lag freudlos wie eine Wüste vor ihr. Sie hätte nie nach Indien kommen, niemals dem
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