Wer Liebe verspricht
wohlmeinenden Zureden ihres Vaters nachgeben sollen. Sie hätte darauf bestehen müssen, daß er sie mitnahm, wie er es so oft in der Vergangenheit getan hatte. Verdrießlich und wahrscheinlich zum hundertsten Mal gestand sich Olivia, es sei wohl doch ein Fehler gewesen, nach Indien zu kommen …
Ähnlichen Überlegungen hing auch Lady Bridget nach, während sie geistesabwesend das Schneiden der Bougainvillea an der vorderen Säulenveranda des Hauses beaufsichtigte. Wäre Olivia nicht so unverkennbar beiden Eltern nachgeschlagen, sagte sie sich stumm, hätte es keine Probleme gegeben. Der Eigensinn, die Halsstarrigkeit, das entschlossene Kinn, die entwaffnenden haselnußbraunen Augen mit dem unschuldigen Feuer, das strahlende Lächeln, bei dem ihr Gesicht von innen zu leuchten schien, die Verletzlichkeit hinter dem Trotz – all das hatte Olivia von Sarah. Wenn man Sarahs schrecklichen Geschmack bei der Wahl ihres Ehemanns einmal außer acht ließ, hatte sie viele Tugenden besessen; wenn auch ein scharfer Verstand und die Fähigkeit, kluge Gedanken zu artikulieren, nicht dazugehörten. Diese beiden Dinge hatte Olivia eindeutig von ihrem gräßlichen Vater. Ganz gleich, was Lady Bridget von ihm hielt, sie konnte nicht leugnen, daß Sean O’Rourke intelligent war. Daß er seine Intelligenz verschwendete, indem er Hirngespinsten nachjagte, hätte Lady Bridget vielleicht als seine Angelegenheit abgetan – wenn er nicht die arme Sarah damit ins Grab gebracht und seine Tochter durch und durch mit seinem Radikalismus verseucht hätte. Olivia hatte nicht einmal eine englische Erzieherin gehabt! Und welcher englische Herr aus guter Familie würde ein Mädchen heiraten wollen, das wie ein Politiker debattierte und Vorträge hielt, wo nur ein Kuß erwünscht war?
Lady Bridget schimpfte wütend mit dem Gärtner, weil er die Bougainvillea hatte wild wachsen lassen, und drohte, ihm vier Annas vom Lohn abzuziehen. Aber sie war nicht bei der Sache. Olivias wachsender Einfluß auf Estelle war sicher nicht Olivias Schuld. Trotz ihres erschreckend direkten Wesens war Olivia praktisch, einfallsreich und (wenn sie wollte!) überaus vernünftig. Man konnte, dem Mädchen keinen Vorwurf daraus machen, daß man ihr erlaubt hatte, in einem Land zu verwildern, das eine Wildnis war. Ebensowenig war Olivia schuld daran, daß Estelle ihre schlechteren Eigenschaften übernahm. Aber das wachsende Aufbegehren ihrer Tochter beunruhigte Lady Bridget. Die englische Gesellschaft sah den Amerikanern vieles nach, weil sie es nicht besser wußten. Bei einer jungen Engländerin, die inmitten der geheiligten Traditionen der Aristokratie geboren und aufgewachsen war, wurde radikales Verhalten weder leicht vergeben noch schnell vergessen.
Soweit es um Olivia ging, kannte Lady Bridget nicht nur ihre Pflichten, sondern sie war ebenfalls entschlossen, diese Pflichten so gut zu erfüllen, wie ihre beachtlichen Fähigkeiten es erlaubten. Sorgen machte ihr Estelles Zukunft. War es ein Fehler gewesen, fragte sich auch Lady Bridget zum hundertsten Mal, Olivia hierhier zu holen, ehe Estelle standesgemäß verheiratet war …?
*
» Vindaloo ? Oh, wunderbar.« Estelle machte sich mit großem Appetit über das Curry her. »Kommt Papa wieder spät?«
»Dein Vater hat gesagt, wir sollen mit dem Abendessen nicht auf ihn warten. Er wird mit Arthur später im Arbeitszimmer essen.« Lady Bridget bedeutete Rehman, dem Diener, die Schüssel aus dem Blickfeld ihrer Tochter zu entfernen.
»Es ist wieder wegen der Sache mit der Sea Siren, nicht wahr?« Estelle überlistete geschickt den Diener und nahm sich noch einen letzten Löffel Reis. »Man sagt, das Schiff ist wegen der Opiumladung überfallen worden.«
»So? Frag deinen Vater. Ich habe keine Ahnung. Übrigens«, sie runzelte die Stirn, »Jane Watkins hat geschrieben, daß sie morgen früh beide Kleider bringt. Wenn du willst, daß sie dir noch passen, Estelle, rate ich dir zu etwas mehr Zurückhaltung bei den Mahlzeiten. Ich bin nicht damit einverstanden, daß du dir für die Burra Khana bei den Pennyworthys noch ein Kleid machen läßt.«
»Ach, das hatte ich völlig vergessen! Aber kann sie wenigstens für das grüne Georgettekleid meine Maße nehmen, Mama? Das heißt, wenn Olivia nichts gegen das beige einzuwenden hat.«
»Nein, ich habe nichts gegen das beige.« Olivia sank das Herz – schon wieder eine Abendgesellschaft? Kannten die Leute hier keine andere Art der Unterhaltung? Seit ihrer Ankunft war
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