Wer mit Hunden schläft - Roman
vom Pichlberger Bahnhof. Sagte es, während sie an seinem Gewand herumzupfte, ihm die Haut über dem Jochbein zusammenzwickte und die Bestandteile der Jause im Rucksack aufzählte. Gebetsmühlenartig quasi. Ist die Jause für einen Zehnjährigen viel zu viel gewesen. War auf einer Fahrt von gut zwei Stunden nicht aufzuessen. In die Jause hatte die Mutter ihr ganzes schlechtes Gewissen miteingepackt. Ihr schlechtes Gewissen darüber, dass der Norbert sie erwischt hat. Auf frischer Tat ertappt, wie es in den Zeitungen immer steht, mit dem Leitenbauer in ihrem Unterleib steckend. Der Pfarrer Probodnig bestätigte der Mutter, im Beisein des Leitenbauer, im besten Wissen und Gewissen zu handeln. »Im besten Wissen und Gewissen, hat der Pfarrer gesagt, wie sie es mir erzählt haben später«, sagt der Herr Norbert. »Obwohl dem beides schon von Berufs wegen her komplett unbekannt war. Wo doch jeder weiß, dass keine Mutter ihr Kind im besten Wissen und Gewissen weggibt. Sondern aus den verschiedensten unangenehmen Gründen dazu gezwungen ist! Konventionell, wie man so schön sagt, nicht wahr? Es aus Egoismus auch oft tut, oder aus einer vermeintlichen Notlage heraus. So wie es auch bei der Mutter in Wirklichkeit der Fall war, und sicher nicht im besten Wissen und Gewissen, wie es der Pfarrer Probodnig der Mutter eingetrichtert hat. Auf jeden Fall, wie der Zug langsamer geworden ist, ist mir zum ersten Mal so richtig der Reis gegangen. Da ist mir alles erst so richtig aufgegangen, wirklich wahr«, sagt der Herr Norbert. Der Norbert hatte sich nach der zweistündigen Zugfahrt schon an den Zug gewöhnt. Wollte ihn gar nicht mehr verlassen eigentlich. Hatte für sich schon den Beschluss gefasst, im Zug zu bleiben und darin zu leben. Die Abteile und Waggons waren für ihn die lebenswerteste Umgebung, die er sich in dem Moment vorstellen konnte. Die Zukunft im Zug hat er sich auf der zweistündigen Reise bis ins kleinste Detail ausgemalt und an die Tatsache, den Zug gleich wieder verlassen zu müssen, keinen Gedanken verschwendet. Der Geruch der verstaubten Pölster der Sitzbänke und die stickige Luft in den Raucherabteilen wurden sofort zu altbekannten, heimatlichen und beruhigenden Gerüchen. So wie der Duft von Weihnachtskeksen und abgebrannten Christbaumkerzen zum Beispiel. Wollte sich hinter dem Plafond der Waggons einrichten. Zwischen den Elektroleitungen und Lüftungsaggregaten sein Bett aufstellen und durch die Lüftungsschlitze die Fahrgäste beobachten, beim Zeitunglesen und Essen und Schlafen, und was Fahrgäste eben so machen während einer Zugfahrt. Hätte sich mit den Mäusen zusammengetan, die ja bekanntlich in den Zwischenräumen der Menschen und von den Menschen leben. Wäre ihr König geworden. Der König der Mäuse und ihr väterlicher Freund zugleich, die ihm das Essen besorgen und ihn anbeten würden wie einen Gott, hat sich der Norbert gedacht. Bis ihn ein Ruck herausriss aus diesen tröstlichen Gedanken. Der Zug war stehen geblieben, und Füße trampelten durch die Gänge des Zugabteils. Aussteigen, weiter geht’s nicht, hat der Schaffner zum Norbert gesagt, dem bei dem Gehörten blitzartig die Knie zu schlottern begannen, wie man so schön sagt.
II
»Schon alleine vom Gedanken, zum Fleischhacker hinuntergehen zu müssen, graust mir, Kreisky. Nur deinetwegen geh ich hinunter, dass du es weißt, sag ich. Deinetwegen und wegen der Kuttelfleck, die du so gerne frisst, nur deswegen, wirklich wahr.«
Die Rechnung, sich einen Hund zuzulegen, ist für den Norbert perfekt aufgegangen, wie man so schön sagt. Nur die Anschaffung des Kreisky, da ist sich der Herr Norbert sicher, hat ihm das Überleben als Zugereister in Wien überhaupt erst möglich gemacht. Der Hundebesitz ist ein überall in Wien anerkanntes Zugeständnis an die Assimilation. Als öffentliche Zurschaustellung des Kulturrespekts. Die Integration gilt nur dann als gelungen, wenn die Auswärtigen freiwillig in die Hundescheiße steigen. Zusätzlich zum Hundebonus ist beim Hudin, wie der Fleischhacker mit den guten Kuttelfleck heißt, das Aussehen des Herrn Norbert dazugekommen. War der Kopf des Norbert als Kind ein Segen, war er später als junger und noch später als fertiger Erwachsener ein Fluch. JEDE MEDAILLE HAT ZWEI SEITEN , wie die Mutter immer gesagt hat. Das niedliche Kindchenschema des kleinen Norbert hat sich beim erwachsenen zum Deppenmagnetschema , wie er es nennt, ausgewachsen. »Schau doch nur, wie ich ausschaue, Kreisky. Dieser
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