Wer morgens lacht
gefragt, und jetzt war es zu spät, jetzt war ihr Interesse an ihm nur noch eine Erinnerung.
Sie gehörte auch nicht zu ihrer Schwester, dieser farblosen, strebsamen Schülerin, die ihr so alt vorkam wie das Haus und seine Bewohner und die trotzdem viel zu jung war, um auch nur zu ahnen, was das Leben zu bieten hatte, das Leben außerhalb des Hauses, die viel zu verkrampft war, um es sich überhaupt vorstellen zu können oder das auch nur zu wollen. Spaß war für sie nur eine Vokabel, so wie fun oder joie, sie interessierte sich nur für die korrekte Schreibweise. Das Einzige, was sie von anderen unterschied, war ihre ständige Eifersucht, dieses ewige Misstrauen, sie könnte zu kurz kommen. Sie würde mich bestimmt nicht vermissen, dachte sie, niemand von ihnen würde mich vermissen.
Das könnte der Moment sein, in dem die Alternative Gestalt annahm, in dem die Sehnsucht nach einem anderen Leben übermächtig wurde.
Und dann sah sie, wie ein paar Meter vor ihr Schuhe auftauchten, Turnschuhe einer Marke, die sie selbst nie tragen würde, out, mega-out wie alles, was zu dem Haus hinter dem Zaun gehörte, vor dem diese langweilige Streberin stand, in der sie das Kind nicht mehr erkannte, das sie einmal gewesen war. Und es könnte sogar sein, dass sie sich kurz die Frage stellte, ob die Schwester auch in ihr nicht mehr das Kind erkannte, das sie einmal gewesen war. Dieser Gedanke war folgerichtig, sie erkannte sich ja selbst nicht mehr.
Komm rein, Marie, sagte die andere, komm rein.
Schon wie sie ihren Namen aussprach, mit diesem langen a und der Betonung auf der ersten Silbe, weckte ihren Zorn, es war ein Rückfall in die frühen Jahre, sie sollte inzwischen doch gelernt haben, ihren Namen richtig auszusprechen, Marie, mit einem kurzen a und der Betonung auf der zweiten Silbe, so hieß sie, Marie.
Leck mich, sagte sie, was willst du von mir?
Komm rein, sie sind sauer, sagte die andere und streckte ihr die Hand entgegen.
Was bildete sie sich ein, wollte sie sie an die Hand nehmen wie ein kleines Kind?
Verdammt, lass mich in Ruhe, sagte sie.
Du sollst reinkommen, sagte die andere, sonst kannst du was erleben.
Das war die Formulierung, die ihr noch gefehlt hatte, sie fing an zu lachen, das Lachen schüttelte sie, es war ein Ausbruch, den sie nicht mehr beherrschen konnte, sie lachte so laut, dass die Hunde in der Nachbarschaft anfingen zu bellen und ein paar Häuser weiter ein Fenster aufgerissen wurde und ein Mann Ruhe brüllte, Ruhe, was soll der Krach mitten in der Nacht?
Sie kriegte sich nicht mehr ein. Was erleben, rief sie in die Dunkelheit und spürte, wie ihr das Lachen von innen schmerzhaft gegen die Rippen und das Zwerchfell drückte und sie das Gefühl hatte zu platzen, wenn sie es nicht hinausließ. Was erleben, genau das ist es, was ich will, rief sie noch lauter und bekam Schluckauf vor Lachen. Und dann, plötzlich, stand ihr Entschluss fest, jetzt wusste sie, was sie tun würde, nicht heute, nicht sofort, aber bald, ein paar Vorbereitungen waren noch zu treffen, doch ihre Entscheidung war gefallen, ihre letzten Zweifel waren verflogen, stiegen mit dem Nachtwind in die Luft und lösten sich in den Wolken auf. Jetzt konnte sie der anderen folgen, konnte in das Haus gehen, weil sie wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bald, bald würde das alles für sie vorbei sein. Wart nur, wart nur, wirst schon sehen, dachte sie, aber nicht ich werde sehen, ihr werdet sehen, ihr, ihr, ihr.
Wäre das etwa der richtige Anfang?
Nein, so nicht, das ertrage ich nicht. Ich bin verletzt, gekränkt, verwirrt. Hat sie denn die Stunden vergessen, in denen wir zusammen gelacht haben, in denen wir fröhlich waren? Die hat es doch auch gegeben, warum hat sie sich nur an das Negative erinnert? Und ich, warum fällt mir in diesem Moment nichts Fröhliches ein? Warum muss ich ausgerechnet jetzt an die toten Tiere denken, Vögel, Mäuse, Käfer, der totgeborene kleine Hund der Meiers, einmal eine überfahrene Katze und ein andermal sogar eine Eule, die wir im Allacher Forst gefunden hatten, die einfach auf dem Moos lag, mit offenen Augen und noch nicht ganz kalt. Wir haben immer gern Tiere begraben, wir haben ihnen hinten im Garten, hinter den Johannisbeersträuchern, mit unseren alten Kinderschippen Gräber gegraben, feierlich schweigend, und erst wenn wir sie mit Erde bedeckt und das Grab mit einem Stein beschwert hatten, um zu verhindern, dass ihre Seelen nachts herumgeisterten und uns im Traum erschreckten,
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