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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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Montag
    Dass er in den Schulferien Urlaub machen musste, empfand Herr Merse als einen großen Nachteil seiner Lebensgestaltung. Überall traf man auf Familien mit Kindern. Besonders am Meer. Aber da es finanziell günstig war und ihm nichts anderes einfiel, fuhr er auch dieses Jahr wieder in die Ferienwohnung seiner Schwester Barbara nach Wenningstedt auf Sylt. Barbaras Wohnung befand sich im zweiten Stock einer Apartmentanlage. Im Betonstil der sechziger Jahre erbaut, zwängte sich der graue Bau zwischen das weiß gestrichene Haupt- und Nebenhaus eines Schullandheims, in dem auch in den Ferien Kindergruppen betreut wurden. Barbara ließ ihm die Wohnung in der Hochsaison zum Preis der Nebensaison, » weil du eben ’ne Grille bist und nix hast«, wie sie sich ausdrückte. Er widersprach nicht. Barbara widersprach man nicht.
    Herr Merse unterrichtete an einer Musikschule in Hamburg-Farmsen, hatte also feste Einkünfte. Zusätzlich kamen Privatschüler zu ihm, von denen er pro Stunde fünfzig Euro nahm. Zum Teil unterschlug er die privaten Einkünfte dem Finanzamt, ließ sich das Geld bar mitbringen und quittierte nicht auf Formularen, sondern in den Oktavheftchen, in die die Schüler ihre Aufgaben notierten. Gewitzt, wie er fand. Gar nicht so grillenhaft. Davon wusste allerdings seine Schwester nichts.
    Barbara war Leiterin eines Gymnasiums, unterrichtete Chemie und Sport und stand kurz vor dem Erwerb eines zweiten Dan-Grades im Go-Spiel, dessen griffige weiße und schwarze Rundsteine sie sorgfältig in Beutelchen und Kästchen aufbewahrte. Dennoch fehlte immer wieder einer , was sie unbegreiflich fand. Sie verdächtigte jeden, ihre Steinchen » versust« zu haben: » Ihr treibt mich noch zum Wahnsinn damit.« » Die Steine verlieren sich«, hatte Herr Merse in beruhigender Absicht einmal zu ihr gesagt, » weil sie gesucht und gefunden werden wollen.« Er hatte einen der glatten Steine vom Teppich neben dem Tischbein aufgehoben und ihn ihr auf flacher Hand hingehalten. Barbara hatte verächtlich geschnaubt und ihn in den Beutel gleiten lassen. Leises Klicken.
    Immer noch bin ich der kleine Bruder für sie, dachte er, während er seine Kleidung in den Koffer legte. Das bleibt. Barbara bildete die eine Uferlinie am Fluss seines Lebens. Dagmar, seine Exfrau, die andere. So empfand er es. Sein Lieblingsgedicht kam ihm in den Sinn: » Die Linien des Lebens sind verschieden / Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen / Was hier wir sind…«, er zögerte, » …wird dort ein Gott ergänzen…« Er stockte. Herr Merse empfand sich als ergänzungsbedürftig. Er legte ein Paar blau-grau gestreifte Wollsocken in den Koffer. Oder hieß es: » Mag dort ein Gott ergänzen«? Er stand unsicher vor dem Kleiderschrank. » Kann dort«? » Kann« würde am besten passen. Das würde alles offenlassen. Was wusste man schon über das Jenseits? » Kann« wäre allerdings nicht ganz so tröstlich wie das zuversichtliche, bei näherem Nachdenken aber größenwahnsinnige » wird«. Er hielt im Packen inne, wandte sich zum Bücherregal, entschied sich gegen ein sofortiges Nachschlagen, aber legte den Band mit einer Auswahl von Hölderlin-Gedichten auf die T-Shirts. Dazu ein weiteres Paar Wollsocken. Rot-grüne. Seine Mutter hatte in ihrem Leben Tausende Wollsocken gestrickt. Er besaß etwa dreißig Paar. Auf Sylt brauchte man auch im Sommer Wolle . » Wer in die Wärme will, wandert woanders«, hörte er den Vater trompeten.
    Barbara liebte die Wärme woanders. Sie fuhr nur über Weihnachten in ihre Sylter Wohnung. Seit seiner Scheidung verbrachte Herr Merse das schwierige Fest dort mit ihr und ihrem Mann Oskar, einem Richter. Einem besserwisserischen Richter. Einem von Haus aus besserwisserischen und ihm, dem Musiker, gegenüber gönnerhaft auftretenden Richter, der gern seine eigenen Weine lobte. Barbara und Oskar machten in allen Ferien außer zu Weihnachten Fernreisen in die Wärme, nach Bali, auf die Kanarischen Inseln, auf die Seychellen. Die Wohnung auf Sylt vermieteten sie. Momentan bereisten sie Thailand.
    Herr Merse reiste wenig. Seit er allein war. ( » Single«, hätte Dagmar gesagt.) Zu Zeiten seiner Ehe war das anders gewesen. Dagmar hatte ideenreich bestimmt, wo es hingehen sollte. Sie hatte überhaupt bestimmt. Was ihm recht gewesen war. Er war ganz gern » mitgedackelt«, wie sie es ausdrückte. Dabei sah sie mehr wie ein Dackel aus als er: klein, gedrungen, mit neugierigen blauen Augen in einem runden, etwas bäuerlichen

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