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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Marie, ich bin in Garmisch, sag Papa, er soll mich holen, ich warte am Bahnhof auf ihn, ab fünf Uhr, richte ihm das aus.
    Wieso bist du in Garmisch?, fragte ich erstaunt. Garmisch war wirklich der letzte Ort, an dem ich sie vermutet hätte, eher in Berlin, Paris oder London, oder in München, bei der Aidshilfe. Was hast du in Garmisch verloren, und warum soll er dich holen, warum kommst du nicht mit dem Zug zurück?
    Sie unterbrach mich, das geht dich einen Dreck an, sag ihm einfach, dass er mich holen muss, sonst …
    Was ist sonst, fragte ich, und sie sagte laut und hart, sonst wird was passieren.
    Ich erschrak, die Drohung in ihrer Stimme war nicht zu überhören, sie machte mir Angst, und zugleich spürte ich, wie die alte Wut in mir aufstieg, es war nur Baldrian, und ich fragte, was meinst du damit, was wird passieren?
    Sie zögerte, und ich fürchtete schon, sie hätte das Gespräch unterbrochen. Marie, rief ich, Marie, bist du noch da?
    Ich bin noch da, sagte sie, und ihre Stimme klang fast, als würde sie ein Weinen unterdrücken. Er muss mich holen, unbedingt, sag ihm das, hörst du, ich warte ab fünf am Bahnhof von Garmisch, aber ich warte nicht ewig, hörst du, sag ihm das.
    Marie, sagte ich, Marie, was ist los? Aber da hatte sie schon aufgelegt.
    Es war wie immer, sie sagte etwas und ließ mich hilflos stehen, ohne mir eine Möglichkeit zur Verteidigung zu geben, zum Gegenangriff oder wenigstens zum Widerspruch. Ich sehe alles genau vor mir, ich sehe mich selbst, wie ich das Telefon hinknallte, wie ich wütend die Hände ballte, mit denen ich ihr am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte, ich, die kleine, dumme Schwester, die man einfach stehen lassen konnte, der man nichts erklären musste, die man nach Belieben herumkommandieren konnte, weniger wert als eine x-beliebige Fremde, der man zumindest noch eine gewisse Höflichkeit entgegenzubringen hatte, und sei es auch nur ein »Guten Tag« oder »Auf Wiedersehen«. Es ging um sie, immer nur um sie, dass ein anderer ebenfalls Sorgen haben könnte, zum Beispiel ich, kam ihr nicht in den Sinn, es kam ihr nie in den Sinn. Dabei hätte ich, wäre sie nicht abgehauen, diesen Marco nie kennengelernt, ich hätte mir nicht nur den Stadtpark erspart, sondern auch diese Angst danach.
    Was ich sonst noch gedacht habe, weiß ich nicht mehr, vermutlich nichts, vermutlich habe ich höchstens gedacht, so hat sie immer geredet, schon früher, das ist nur Geschwätz, bestimmt habe ich alles, was ich sonst noch hätte denken können, einfach zur Seite geschoben, der Tag war auch viel zu heiß, so einen sonnigen Septemberanfang hatten wir schon lange nicht mehr, das richtige Wetter, um schwimmen zu gehen, vielleicht eine der letzten Möglichkeiten in diesem Sommer, der langsam zu Ende ging, der Winter würde noch lange genug dauern. Ich packte meinen Badeanzug, ein Handtuch und etwas zu lesen in eine Tasche, machte die Haustür hinter mir zu, klemmte die Tasche auf den Gepäckträger meines alten Fahrrads, nicht Maries, und fuhr los.
    Als ich am späten Nachmittag nach Hause kam, erschöpft, weil ich ein paarmal um den See geschwommen war und mir dabei immer wieder, wie ein Mantra, vorgesagt hatte, am Montag gehe ich zu Doktor Kugler, am Montag gehe ich zu Doktor Kugler, war unser Vater natürlich längst wieder weg, und abends, als er von seiner vergeblichen Suche zurückkehrte, war es sowieso schon zu spät, da war es schon nach sieben, jetzt hatte es keinen Sinn mehr, nach Garmisch zu fahren. Ich weiß auch noch, dass ich mich danach, als unsere Eltern im Wohnzimmer saßen, in Maries Zimmer schlich, die Kopfhörer aufsetzte und mir mit der Musik aus ihrem MP3-Player den Kopf volldröhnte. Am nächsten Morgen wusste ich nicht mehr, ob ich Maries Anruf vielleicht nur geträumt hatte, und es dauerte nicht lange, höchstens bis zum negativen Ergebnis meines Aidstests, da war ich überzeugt, ihn nur geträumt zu haben.
    Warum hat Papa mich damals nicht geholt?, fragt Marie jetzt.
    Ich zucke mit den Schultern, auch wenn ich weiß, dass mich das nicht vor der entscheidenden Frage retten wird. Wenn es so weit ist, gibt es keine Hilfe, da kann man sich auch nicht mehr wegducken.
    Und da kommt sie schon, die Frage aller Fragen: Hast du es ihm überhaupt gesagt?
    Was ist die Wahrheit, was eine Ausrede und was eine Lüge? Warum habe ich mir diese Frage in den vergangenen Jahren nicht selbst gestellt, kein einziges Mal? Warum bin ich ihr ausgewichen, bin mit abgewandtem Gesicht

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