Wer nichts hat, kann alles geben
Das Einzige, was ich zu diesem Zeitpunkt wusste, war, dass mir mein Bauch schon rechtzeitig mitteilen würde, wo ich würde landen können.
Der Neubeginn
V on Perikles ist der Spruch überliefert: »Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit. Das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut.« Einerseits ist das richtig: Es bedarf in der Tat einer Portion Mut, sich Freiheit zu erlauben. Man muss dafür einige Hürden überwinden, zuallererst die im eigenen Kopf. Andererseits aber gehört in meinen Augen noch mehr Mut dazu, ein Leben in Unfreiheit zu führen. Viele Menschen haben die Befürchtung, dass sie untergehen, wenn sie ihr vertrautes Terrain erst einmal verlassen haben. Ich halte das für eine sehr entmündigte Haltung. Man delegiert Zuständigkeiten nach außen, die eigentlich bei einem selbst liegen.
Ich empfinde es deshalb eher als mutig, das Leben zu führen, das die meisten Europäer leben. Weil ich mir die Frage stelle: Was hat der oder die davon? Sicherheit, so, so. In Wahrheit ist es die Sicherheit, ein ganzes Leben unglücklich zu sein. Im Vergleich dazu ist die Unsicherheit, nicht zu wissen, wie das Leben weitergehen wird, doch ein Riesenfortschritt. Es kann entweder unglücklich weitergehen oder glücklich
– aber es gibt zum Unglück wenigstens eine Alternative.
Ein solcher Schritt kostet Überwindung. Doch die gute Nachricht ist: Wer sich nicht loszulassen traut, der kann es lernen. Ich selbst bin ein Beispiel dafür, dass man das schaffen kann. Lange Zeit hatte ich mir nicht vorstellen können, dass ich wirklich einmal bereit sein würde, mich von meinem alten Leben zu verabschieden. Mir half ein schönes Denkspiel dabei: Angenommen, das Ende deines Lebens stünde unmittelbar bevor: Was würdest du tun, wenn dir nur noch ein Tag Zeit bliebe? Stellt man diese Frage jemandem um acht Uhr in der Früh, der gerade auf dem Weg in sein Büro ist, würde der wohl antworten: »Ich würde auf der Stelle umdrehen, meine Kinder von der Schule abholen und sie umarmen, meine Frau abholen und sie umarmen – und wir würden uns alle zusammen einen schönen Tag machen.«
Bei nur noch einem verbleibenden Tag stünde bei jedem das Verabschieden von den Liebsten im Vordergrund. Was würde dieser Mensch aber wohl tun, wenn ihm noch ein Monat bliebe oder zwei oder drei? Erst wenn man auch angesichts eines so langen Zeitraums sagen kann: »Ich würde dasselbe tun, was ich jetzt auch mache« – erst dann weiß man, dass das Leben passt, wie es ist.
Ich plädiere mit meinem Ansatz ja gar nicht für einen Komplett-Umstieg. Es genügt schon, wenn jeder einen kleinen Schritt in die Richtung tut, die ihm das Gefühl vermittelt, die richtige zu sein. Wir müssen
nicht alle Industrieanlagen dichtmachen, das Arbeiten einstellen, allesamt auf die Alm ziehen und Schafe oder Ziegen hüten – keine Spur. Es wäre schon viel geholfen, wenn jeder, sobald er ein Unbehagen spürt, das nicht mehr verschwinden mag, zu handeln beginnt, statt sich in seiner Misere komfortabel einzurichten.
Dass ich in einem Leben angekommen bin, wie ich es mir wünsche, merke ich allein schon daran, wie meine Tage heute beginnen. Früher stürzte ich nach dem Aufstehen (was meistens nicht allzu früh war, weil ich ein typischer Abendmensch bin) schnell einen Kaffee hinunter und beschäftigte mich dann mit meinen zahlreichen To-do-Listen. Manchmal habe ich so viele Listen geführt, dass ich schon fast eine To-do-Liste brauchte, um festzulegen, in welcher Reihenfolge ich die eigentlichen Listen am besten abarbeiten konnte.
Heute mache ich das anders. Nach dem Aufwachen entscheide ich, was die zwei, drei Dinge sind, die an diesem Tag ohne Wenn und Aber zu erledigen sind. Das Gegenteil von To-do-Listen sind ja nicht »Not-to-do-Listen«, ich arbeite immer noch genauso zuverlässig und gewissenhaft wie zu meiner Zeit als Unternehmer. Doch heute denke ich mir: Wenn ein paar der unwichtigen Dinge unerledigt bleiben, wird es auch niemanden stören. In Relation zu dem unendlichen Stress, den das sklavische Befolgen der To-do-Listen mir jahrelang bereitet hat, ist es mir heute deutlich lieber, irgendwo anrufen zu müssen und zu sagen: »Tut mir leid, ich bin nicht fertig geworden, bitte gedulden Sie sich bis morgen.« 211
Und bevor ich mit den wichtigen und unaufschiebbaren Arbeiten beginne, frage ich mich zuerst, was ich an diesem Tag außerdem tun möchte, damit es mir selbst gutgeht und somit auch den anderen. So mache ich morgens ein paar
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