Wer nie die Wahrheit sagt
Sorgen. Hoyt und Dillon wussten inzwischen bestimmt, dass man sie entführt hatte. Aber wussten sie auch, wohin? Und wieso hatte man sie überhaupt am Leben gelassen?
Sie warf einen Blick auf den Sitz neben ihr. Er war leer. Simon war weg.
Eine tiefe Männerstimme sagte in zögerndem Englisch direkt an ihrem Ohr: »Sie essen jetzt.«
Nikki sank auf Simons Sitz. Er hielt ein Tablett auf seinem Schoß. Es war der Mann, der von der Klippe zu ihr heruntergerufen hatte, der Mann, von dem dieser Alpo behauptete, er könne ganz schön gemein sein.
»Wo ist Simon?«
Der Hüne schüttelte den Kopf. »Nicht sorgen. Essen Sie.«
Langsam und sehr entschlossen sagte sie: »Nein, ich tue gar nichts, bevor ich Simon Russo nicht gesehen habe.«
Nikki packte sie mit seiner Pranke im Genick und riss ihren Kopf zurück. Er nahm ein Glas mit etwas, das aussah wie Eiskaffee, bloß ohne Eis und zwang sie, es zu trinken. Sie wehrte sich, spuckte und würgte, wobei die Flüssigkeit ihr Kinn herunterrann und in ihre Kleidung sickerte. Es schmeckte nach Kaffee und nach noch etwas anderem. Sie schluckte. Da waren Tabletten drin. Ihr wurde schwindelig, noch bevor Nikki ihr Genick wieder losließ. »Wieso haben Sie das getan?«
»Wir landen bald. Da sind Behörden. Wir wollen, dass Sie still sind. Zu schade, dass Sie nichts gegessen haben. Sie sind zu dünn.«
»Wo ist Simon, Sie Mistkerl?« Aber die Worte klangen irgendwie nicht mehr richtig. Lily wünschte ebenfalls, sie hätte etwas gegessen. Sie hörte noch ihren Magen knurren, bevor sich eine bodenlose Schwärze um sie herum auftat.
24
BAR HARBOR, MAINE
Special Agent Aaron Briggs, Halsweite zirka dreiundfünfzig und ein Bizeps, dass einem angst werden konnte, im Mund einen Goldzahn, der aufblitzte, wenn er, was meistens der Fall war, breit lächelte, stand hinter dem Tresen und nickte den Agents Lowell und Possner zu. Beide Agenten waren leger in Jeans, Sweatshirt und Jacke gekleidet und versuchten wie ganz normale Kunden auszusehen, die sich Bilderrahmen und Fotoalben ansahen.
Es war Punkt vierzehn Uhr.
Savich war im Hinterzimmer. Aaron wusste, dass er seine SIG Sauer bereit hielt, wusste, dass er Tammy Tuttle unbedingt zur Strecke bringen wollte. Auch Aaron wollte das. Tammy Tuttle durfte nicht weiterleben, durfte nicht weiter wüten und unschuldige Jungen umbringen. Er hatte jedes Wort gehört, das Dillon Savich im Flugzeug gesagt hatte. Er kannte Agenten, die den Mann mit dem wilden Blick auf Antigua gesehen hatten, der Mann, der Virginia Cosgrove die Kehle aufgeschlitzt hatte, Agenten, die nicht erklären konnten, was sie gesehen und gehört hatten. Er verspürte einen Anflug von Angst in der Magengegend, sagte sich aber, dass sie schon bald tot sein würde, dass all das unerklärliche Zeugs, das er gehört und das sie im Flughafen von Antigua getan hatte, mit ihr verschwunden sein würde.
Die Ladentür ging bimmelnd auf. Herein kam Tammy Tuttle in einem dicken, gürtellosen Wintermantel, der ihr um den Leib schlotterte. Aaron setzte sein strahlendes Lächeln auf und ließ seinen Goldzahn blitzen, während er beobachtete, wie sie auf ihn zuging. Er spürte förmlich, wie sich die Agents Possner und Lowell auf Tammy Tuttle konzentrierten, ohne sich jedoch etwas anmerken zu lassen. Seine SIG Sauer lag nur gut zehn Zentimeter weit von seiner rechten Hand unter dem Tresen.
Sie war blass, zu blass, vollkommen ungeschminkt, und da war etwas an ihr, das irgendwie störte, etwas, das nicht ganz stimmte.
Aaron mimte mit Abstand den besten Verkäufer im ganzen Bureau. Man sagte ihm nach, er könne einem Terroristen einen gebrauchten olivgrünen Chevy Chevette andrehen, und jetzt drehte er seinen ganzen Charme auf. Er sagte: »Hallo, wie kann ich Ihnen helfen, Miss?«
Tammy lehnte nun beinahe am Tresen. Sie beugte sich vor, und er ließ ihr Gesicht keine Sekunde aus den Augen, als sie fragte: »Wo ist der andere? Diese Flasche, Teddi mit einem ›i‹?«
»Ja, ist das nicht ’n Heuler? Teddi mit einem ›i‹. Na ja, Teddi sagt, er habe Bauchschmerzen – das hat er schon mehr als einmal behauptet – und hat mich gebeten für ihn einzuspringen. Also, ich persönlich glaube, er hat gestern Abend im Night Cave Tavern einen zu viel hinter die Binde gegossen. Waren Sie mal da? Drüben in der Snow Street?«
»Nein. Geben Sie mir meine Fotos. Sofort.«
»Ihr Name, Miss?«
»Teresa Tanner.«
»Wird erledigt«, sagte Aaron und drehte sich langsam zu den eingebauten Fächern hinter
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