Wer nie die Wahrheit sagt
schmunzelnd zu ihm auf. »Bin froh, dass du gekommen bist. Wurde am Schluss doch brenzlig.«
Sie hörte Olaf wüste Verwünschungen kreischen. Dann war er still.
Simon sagte an ihrem Ohr: »Es ist vorbei, Lily. Olaf ist außer Gefecht gesetzt. Höchste Zeit, sich Gedanken um dich zu machen. Du blutest ja. Halt ganz still, gleich kommt der Notarzt.«
»Mir geht’s gut. Das sind bloß Schnittwunden von den fliegenden Marmorsplittern«, sagte sie dann. »Wieso bist du so nass?«
»Hab nicht aufgepasst. Halt still.«
»Nein, erzähl. Wie bist du ihnen entkommen? Was ist passiert?«
Er merkte, dass sie nicht locker lassen würde, und versuchte sich so weit zu fassen, dass er ihr mit ruhiger Stimme erzählen konnte, was passiert war. »Bin in den Kanal gesprungen, um ihnen zu entwischen, aber es gelang mir nicht. Dann wimmelte es plötzlich überall von Polizisten. Man zog mich aus dem Wasser und kümmerte sich auch um Alpo, Nikki und Ian. Niemand wurde getötet. Jetzt stecken sie alle, wie passend, hinter schwedischen Gardinen. Es war dein Bruder, Lily. Er hat einen Freund in Stockholm angerufen, der zufällig zwei Brüder bei der Göteborger Polizei hat. Die Polizei hat das Anwesen beobachtet. Sie sahen, wie Ian und die Jungs mich in den Wagen verfrachteten, haben Verstärkung gerufen und sind uns gefolgt.«
»Also diese Brüder möchte ich kennen lernen«, sagte sie. Zum ersten Mal seit langer Zeit war ihr wirklich zum Lachen zumute. Und das tat sie dann auch.
28
WASHINGTON D.C.
Es war Samstag, spätabends, und kälter in Washington, als es in Stockholm gewesen war. Am Vormittag hatte es einen Temperatursturz geben, der Himmel hatte sich geöffnet und die ganze Ostküste mit einer dünnen Neuschneedecke überzogen. Lily lag endlich im Bett, und auch die Schnittwunden an Schulter und Rücken taten kaum mehr weh. »Nicht weiter schlimm – alles bloß oberflächliche Schmerzen«, hatte der schwedische Arzt gesagt, und sie hätte ihm am liebsten eine gelangt. Jetzt würde sie wahrscheinlich noch mehr Narben bekommen.
Als sie dies später seufzend Simon anvertraute, hatte dieser, während er fürsorglich etliche Kissen auf dem geräumigen Erste-Klasse-Sessel im Flugzeug um sie herum feststeckte, gesagt, er mochte Frauen mit Narben. Die Narben zeigten Charakter.
»Nein«, hatte Lily geantwortet, während sie sich von ihm eine leichte Decke bis unters Kinn ziehen ließ, »das Einzige, was es zeigt, ist, dass die Frau ein lausiges Urteilsvermögen hat.«
Er hatte gelacht und sie geküsst. Dann hatte er ihr die Haare aus der Stirn gestrichen und sie noch mal geküsst, diesmal jedoch ohne zu lachen.
Dann hatte Simon ihr Gesicht in seine Hände genommen und ganz leise, da der Film schon vorbei war und alle Passagiere in der schwach beleuchteten Kabine zu schlafen versuchten, gesagt: »Ich glaube, aus uns wird noch ein ganz tolles Team, Lily. Du, ich und der aalglatte Remus.«
Lily kuschelte sich unter die Decke. Sie hoffte, dass es Simon besser erging als ihr. Er war, ebenso wie sie, zum Umfallen müde gewesen. Sie hoffte, dass er schon schlief.
Doch auch Simon wälzte sich vorsichtig auf der viel zu kurzen Pritsche um, denn er wollte nicht aus Versehen auf dem Boden landen. Er hatte es endlich geschafft, seine Füße sorgfältig in die Decke zu wickeln, was gar nicht so leicht war, da diese ein ganzes Stück über die Pritsche hinausragten. Vorübergehend hatte er sein Lager in Seans Kinderzimmer aufgeschlagen, gar nicht weit von Lily, denn der Kleine war noch immer bei Mrs. Savich. Eine Vorsichtsmaßnahme, hatte Dillon gemeint, während er Special Agent Dane Carver, einem neuen Mitglied seiner Abteilung, beim Hochtragen der schmalen Militärliege half, die Simons Schlaflager werden sollte. Er hatte beiden Männern verkündet, dass es ihm nicht mal was ausmachen würde, wenn sie ihn in Seans Krippe pressten, sofern er nur schlafen dürfte.
Er wusste, dass es ihr gut ging, drüben in ihrem Zimmer, gar nicht weit von seinem. Für seinen Geschmack jedoch immer noch viel zu weit, deshalb hatte Simon vor, das zu ändern. Es fiel ihm gar nicht schwer, sie sich in seinem Sandsteinhaus in New York vorzustellen. Er würde eins der oberen großen Gästezimmer so umgestalten, dass sie es als Arbeitszimmer benutzen konnte. Dieses Zimmer hatte ein herrliches Licht, genau richtig für sie, um zu malen.
Lächelnd atmete Simon Seans Geruch ein. Ein netter Geruch, aber lieber hätte er den vom Gästezimmer geatmet, in dem Lily
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