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Wer nie die Wahrheit sagt

Wer nie die Wahrheit sagt

Titel: Wer nie die Wahrheit sagt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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brüllte noch lauter, als er brüllte. »Was hat sie Ihnen am letzten Tag gesagt, als sie mit meinem Großvater wegfuhr? Denn Sie waren bei ihr, nicht wahr? Sie haben sie angefleht, Sie zu heiraten anstatt Emerson, aber sie hat abgelehnt, nicht? Hat sie Sie ausgelacht? Hat sie zu Ihnen gesagt, lieber nähme sie diesen Frauenhasser Picasso? Dass Sie nicht mehr Talent als eine Nacktschnecke haben und sie sich vor Ihnen ekelt, vor Ihrem albernen Getue, Ihrer Affektiertheit, Ihren Möchtegern-Allüren? Hat sie das zu Ihnen gesagt, Olaf?«
    »Verfluchtes Miststück, sie hat gesagt, ich sei ein verwöhnter kleiner Junge, der zu viel Geld hat und immer egoistisch und oberflächlich bleiben wird!« Er keuchte, bekam kaum noch Luft, warf sich im Rollstuhl hin und her.
    Lily starrte ihn fassungslos an. »Sie erinnern sich also sogar noch an die genauen Worte meiner Großmutter. Das ist doch schon über fünfundsechzig Jahre her! Mein Gott, Sie waren ja damals schon erbärmlich, aber jetzt ist es noch schlimmer.«
    »Halt’s Maul!« Olaf schien nun fast im Fieberwahn zu sein; mit seinen zerbrechlichen, dick geäderten Händen krallte er sich an die Rollstuhllehnen, wobei seine verkrümmten Finger vor Anstrengung fast weiß wurden.
    Der Kammerdiener beugte sich nun über ihn und sprach hastig und leise auf ihn ein. Sie hörte zwar die Worte, konnte aber nichts verstehen, weil er schwedisch sprach.
    Olaf achtete überhaupt nicht auf ihn, schüttelte ihn ab wie eine lästige Fliege. Lily sagte lächelnd: »Sie wissen, Sarah liebte Emerson so sehr, dass sie ihn andauernd porträtiert hat? Dass sechs dieser Porträts in der Privatsammlung meiner Mutter hängen?«
    »Ich weiß«, kreischte er, »natürlich weiß ich das! Glaubst du, ich würde je ein Porträt dieses Heuchlers wollen? Dieser verdammte Narr wusste überhaupt nicht, was sie war. Er konnte sie weder verstanden noch richtig gewürdigt haben! Ich konnte es, aber sie verließ mich. Ich habe sie angefleht, auf meinen Knien, aber es spielte keine Rolle – sie hat mich verlassen!«
    Er zitterte, ja schlotterte nun derart, dass sie fürchtete, er würde jeden Moment aus dem Stuhl fallen.
    Auf einmal brüllte Olaf seinem Diener etwas auf Schwedisch zu. Der Mann packte die Griffe des Rollstuhls und begann das Gefährt über das riesige Schachbrett zu schieben.
    »He, Olaf, wieso rennen Sie vor mir weg? Wollen Sie nicht hören, was ich zu sagen habe? Ich wette, das ist erst das zweite Mal in Ihrem Leben, dass Ihnen mal jemand die Wahrheit sagt. Wollen Sie mich denn nicht mehr heiraten?«
    Sie hörte, wie er etwas kreischte, konnte aber die Worte nicht verstehen, es war ein beinahe unverständliches Gemisch aus Englisch und Schwedisch. Er klang wie ein irrer alter Mann, der vollkommen den Verstand verloren hat. Was hatte er vor? Wieso ging er? Sie stand auf dem Feld des Königs, stützte sich zitternd auf die wunderschön gearbeitete Marmorfigur. Sie fragte sich, wie weit sie ihn wohl getrieben hatte. Weglaufen konnte sie nicht, denn die zwei Bodyguards würden sie zweifellos aufhalten.
    Wo brachte ihn der Diener hin? Was hatte er zu ihm gesagt? Die beiden Bodyguards unterhielten sich nun leise miteinander; sie starrten sie an, und sie sah einen Ausdruck von Verwirrung in ihren Augen. Keine drei Schritte weit käme sie, bevor sie sie eingefangen hätten.
    Lilys Wut fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus, und an ihre Stelle trat eine Heidenangst. Aber sie hatte sich prima gehalten. Sie musste an ihre Großmutter denken und fragte sich unwillkürlich, wie ähnlich sie ihr wohl wirklich war. Beide hatten sie sich diesem Mann entgegengestellt, und sie war stolz auf das, was sie getan hatten.
    So stand sie da, und ihre Gedanken rasten. Fieberhaft überlegte sie, was sie jetzt tun sollte, doch blieb ihr keine Zeit mehr zum Überlegen. Denn sie hörte das leise Geräusch der Rollstuhlräder und sah Olaf erneut auf sich zukommen. Diesmal schob er sich selbst, seine verkrümmten, zitternden Hände drehten hektisch an den Rädern. Die beiden Bodyguards traten einen Schritt vor. Er schüttelte den Kopf, sah sie nicht einmal an. Er starrte Lily an, und in seinen Augen standen Erinnerungen, Erinnerungen an jene andere Frau, schmerzlich klare Erinnerungen. Sie wusste, dass das, was damals an jenem Tag geschehen war, ihn bis in die tiefste Seele getroffen, ihn verkrüppelt, das zerstört hatte, was er in sich sah und werden wollte. Und jetzt erkannte er, was in all den Jahren seit jenem Tag

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