Wer nie die Wahrheit sagt
was wohl aus ihren Kreditkarten geworden sein mochte. Nun, sie würde Dillon bitten, sich darum zu kümmern.
Sie stand am Gehsteigrand und blickte die Straße hinauf und hinab. Unmöglich, hier ein Taxi zu kriegen, obwohl sie bereit gewesen wäre, ihrem spärlichen Vorrat noch einmal vier Dollar zu entnehmen. Nein, kein Taxi. Ein solches Glück hatte man nicht zweimal. Oh, ein Bus, dachte sie und beobachtete, wie er langsam auf sie zuwackelte. Die Frühstückspension war nicht allzu weit von hier entfernt, und der Bus fuhr in die richtige Richtung. Vorsichtig nach rechts und links schauend, ob frei war, überquerte sie die Straße. Es waren kaum Leute unterwegs.
Geradezu lebensecht sieht sie ihn vor sich, den Aalglatten Remus, umwerfend gut aussehend und unglaublich gerissen. Er schaut griesgrämig drein, als ein Kollege sich an eine Praktikantin ranmacht, die ihm selbst gefallen hätte, wohingegen seine Freude keine Grenzen kennt, als er entdeckt, dass die Frau eines Senators ihren Mann mit einem seiner ehemaligen Stabsmitglieder betrogen hat.
Singend blickte sie dem mindestens zwanzig Jahre alten Bus entgegen, der rauchend und schnaufend auf sie zuwackelte. Der Fahrer, ein alter Haudegen, grinste ihr schon von weitem zu. Er hatte einen Walkman auf und wackelte im Takt zur Musik auf seinem Stuhl herum. Anscheinend war sie der einzige Passagier, den er seit geraumer Zeit zu Gesicht bekam.
»Sind wohl nicht viele Leute unterwegs heute, oder?«
Er grinste und zog den Kopfhörer vom rechten Ohr weg. Sie wiederholte ihre Frage. Er sagte: »Nö, alle draußen aufm Friedhof bei der Beerdigung.«
»Wessen Beerdigung?«
»Der alte Ferdy Malloy, der Pfarrer der Baptistenkirche. Freitag hat’s ihn erwischt.«
Freitags. Da hatte sie noch im Krankenhaus gelegen und sich nicht gerade wie das blühende Leben gefühlt.
»Natürliche Ursachen, hoffe ich doch?«
»Sie können glauben, was Sie wollen, aber jeder hier weiß, dass seine Alte wahrscheinlich kräftig nachgeholfen hat. Böses altes Weib, diese Mabel, noch zäher als Ferdy und viel gemeiner. Niemand hat sich getraut, ’ne Autopsie zu verlangen, deshalb kommt der gute Ferdy heute unter die Erde.«
»Na ja«, sagte Lily, der nichts Besseres einfiel, doch dann kam ihr noch ein Gedanke. »Ach ja, ich wohne im Mermaid’s Tail. Kommen Sie dort in der Nähe vorbei?«
»Is’ niemand da, der mir’s verbieten könnte. Werd’ Sie direkt vor der Tür absetzen. Passen Sie auf, die dritte Stufe is schon ganz morsch.«
»Vielen Dank, sehr nett von Ihnen.«
Der Fahrer ließ den Kopfhörer los und begann auch gleich wieder auf seinem Sitz auf und ab zu hüpfen. Zwei Blocks weiter hielt er an, direkt vor dem Rover’s Drive-In, wo es die besten Hamburger westlich des Sillow Rivers gab. Gleich daneben befand sich eine Ladenfront mit einem Schild, das gleich drei Friedensrichter und mehrere Notare anpries, ansprechbar vierundzwanzig Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche.
Lily schloss die Augen. Der Bus fuhr wieder los. Ihre Gedanken kreisten um den Aalglatten Remus und eine weitere Episode seiner »gesammelten Streiche und Abenteuer«.
»Hallöchen.«
Sie blickte auf und sah einen jungen Mann, der sich auf den Sitz neben ihr plumpsen ließ. Ihre Pakete hatte er kurzerhand ergriffen und auf dem Sitz gegenüber abgeladen.
Lily war einen Moment lang zu perplex, um denken zu können. Sie starrte den jungen Mann an, der nicht älter als zwanzig sein konnte und der seine langen, fettigen, strähnigen schwarzen Haare im Nacken zu einem Rattenschwanz zusammengebunden hatte. Am Außenrand seiner linken Ohrmuschel prangten untereinander drei kleine Silberringe.
Er trug eine dunkle Sonnenbrille und eine Baseballkappe verkehrt herum auf dem Kopf, dazu eine weite schwarze Lederjacke.
»Meine Pakete«, sagte sie und wies mit einer Kopfbewegung auf den Sitz gegenüber. »Wieso haben Sie sie da rübergelegt?«
Er grinste sie lüstern an, und sie sah, dass er hinten im Mund einen Goldzahn hatte.
»Sie sind unheimlich hübsch. Ich wollte einfach neben Ihnen sitzen. Ganz nah.«
»Nein, so hübsch bin ich nicht. Ich möchte, dass Sie sich sofort einen anderen Platz suchen, Auswahl gibt’s ja genug.«
»Nein, ich bleib hier sitzen. Vielleicht sogar noch ein bisschen näher. Wie gesagt, Sie sind richtig hübsch.«
Lily warf einen Blick nach vorne zum Busfahrer, doch der war ganz in seinen Rock’n’Roll versunken und wippte so begeistert auf seinem Sitz hin und her, dass der Bus
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