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Wer nie die Wahrheit sagt

Wer nie die Wahrheit sagt

Titel: Wer nie die Wahrheit sagt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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und über die Schulter gewandt noch zu ihr sagte: »Das Abendessen war ausgezeichnet, Mrs. Scruggins. Meinem Bruder hat es sehr gut geschmeckt. Und ich danke Ihnen, dass Sie mir vor sieben Monaten das Leben gerettet haben. Ich werde Sie und Ihre Freundlichkeit vermissen.«

8
    Lily nahm eine Schmerztablette und warf einen Blick in den Badspiegel. Was sie sah, gefiel ihr, gar kein Zweifel. Sie seufzte, als sie an die vergangenen Monate dachte und sich wieder einmal fragte, was mit ihr geschehen war. Hatte sie bei ihrer Ankunft in Hemlock Bay noch anders ausgesehen? Sie war so voller Hoffnungen gewesen, so glücklich, dass sie und Beth endlich frei waren, frei von Jack Crane, frei, zu tun, was sie wollten, nur sie beide. Sie wusste noch, wie sie Hand in Hand die Main Street entlanggeschlendert waren, wie sie bei einer Bäckerei Halt gemacht und für Beth ein Schokocroissant und für sich ein Rosinenbrötchen gekauft hatten. Damals wusste sie noch nicht, dass sie schon bald wieder heiraten würde, einen Mann, von dem sie überzeugt war, dass er sie und Beth von ganzem Herzen liebte, und dieser Mann stahl ihr dann elf Monate ihres Lebens.
    Wie dumm, wie unglaublich blöd konnte man sein?
    Sie hatte noch einmal einen Mann geheiratet, der über ihren Tod frohlockt hätte, der sie mit tränenüberströmtem Gesicht zur letzten Ruhe gebettet und eine bewegende Grabrede gehalten hätte, während er innerlich jubelte.
    Zwei waren es jetzt, zwei Ehemänner – nie, nie wieder würde sie einen Mann ansehen, der auch nur das geringste Interesse an ihr zeigte. Tatsache war, dass sie einfach kein glückliches Händchen hatte, wenn es um Männer ging. Und wieder bohrte sich die Frage in ihr Herz – war Tennyson möglicherweise für Beths Tod verantwortlich?
    Lily glaubte es nicht – sie war gestern Abend ehrlich gewesen, was das betraf –, aber es war so schnell geschehen, so plötzlich, und niemand hatte irgendwas Brauchbares gesehen. Könnte Tennyson am Steuer dieses Wagens gesessen haben? Und dann war sie von dieser furchtbaren Depression niedergeworfen worden, hätte sich am liebsten in einen Sarg gelegt und den Deckel zugemacht.
    Beth war fort. Für immer. Lily stellte sich das kleine Gesichtchen vor – das Ebenbild ihres Vaters, aber feiner, sanfter –, so wunderschön, dieses kostbare kleine Gesicht, das jetzt nur mehr in ihrer Vorstellung existierte. Eine Woche vor ihrem Tod hatten sie ihren sechsten Geburtstag gefeiert. Beth war – im Gegensatz zu ihrem Vater – unschuldig und voller Liebe gewesen, hatte ihrer Mutter immer alles erzählt, bis … Lily hob den Kopf und blickte erneut in den Spiegel. Bis was? Sie dachte an die letzte Woche vor Beths Tod zurück. Beth war anders gewesen, irgendwie auf der Hut, verschüchtert – vielleicht sogar ängstlich.
    Beth und ängstlich? Nein, unmöglich. Und dennoch, Beth war anders gewesen, kurz bevor sie starb.
    Nein, nicht starb. Beth war umgebracht worden. Und der Fahrer hatte Fahrerflucht begangen. Wie ein Bleigewicht senkte sich der Schmerz in Lilys Herz, und sie fragte sich, ob sie je die Wahrheit erfahren würde.
    Sie schüttelte den Kopf, trank noch ein wenig mehr Leitungswasser. Ihr Bruder und Sherlock waren gerade gegangen, nachdem sie ihnen ein halbes Dutzend Mal versichert hatte, dass sie noch immer ganz ruhig war, dass sie überhaupt keine Schmerzen hatte. Es ging ihr gut, los, los, nun holt schon die Sachen aus Hemlock Bay. Sie hoffte, dass Tennyson nicht ihre Malsachen kaputtgeschlagen hatte.
    Sie holte tief Luft, ein heilsamer Atemzug, der den Verstand klärte. Ja, sie wollte ihre Malsachen noch heute haben, so bald wie möglich. Sie wollte ihren roten Marderpinsel Nummer zwei in die Hand nehmen, aber es wäre dumm, einen neuen zu kaufen, bloß für heute. Nein, sie würde sich einfach eine paar Buntstifte und Filzstifte kaufen, ganz billige, denn es war ja nur für heute. Vielleicht sollte sie sich auch einen Cartoonblock kaufen, so einen wie sie ihn vor Jahren von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte, als sie verkündete, sie wolle es mit dem Cartoonzeichnen versuchen. Nein, mit diesen Stiften ginge es sicher genauso. Und dazu vielleicht ein Fläschchen Tinte, eine Packung gutes, Hundert-Gramm-Schreibmaschinenpapier, widerstandsfähiges Papier, das nicht kaputtging, egal wie oft man es in irgendwelche Umschläge schob oder bearbeitete. Ja, gutes Papier, nicht mehr als hundert Blatt. Da sie gewöhnlich politische Cartoons zeichnete, benutzte sie

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