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Wer nie die Wahrheit sagt

Wer nie die Wahrheit sagt

Titel: Wer nie die Wahrheit sagt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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Papierstreifen, die sie von größeren Bogen abschnitt, spezielles Künstlerpapier, das dicker war als Postkarten – Bristolkarton genannt und sehr gut für die Arbeit mit dem Pinsel geeignet. Und ein Fläschchen Flüssigpapier. Sie konnte sich richtig sehen, wie sie in kaum einer Stunde dasitzen würde und jene scharfen, dünnen Linien zeichnete, aus denen dann der aalglatte Senator Remus entstand, hoffnungsvoller Präsidentschaftskandidat, aus dem properen Staat West-Dementia, den der gute Senator tatsächlich in zwei Hälften geteilt hatte, um das ultimative Experiment in Sachen Schusswaffenkontrolle durchzuführen. In einer Hälfte des Staates herrschte absolute Kontrolle, so strikt wie in England, in der anderen Hälfte von West-Dementia herrschte der freie Markt. Er hielt eine leidenschaftliche Rede vor dem Bundesparlament, mit dem Segen des Gouverneurs, den er damit erpresste, dass dieser Schmiergelder von einem Bauherrn angenommen hatte, der wiederum ein Neffe des Senators war: »Ein Jahr, das ist alles, worum ich euch bitte, meine Freunde«, tönt Remus, die Arme ausgebreitet, als wolle er das ganze Parlament umarmen. »Nur ein Jahr, und wir werden es ein für alle Mal wissen.«
    Und was daraufhin im Westen von West-Dementia geschieht, ist, dass die kriminellen Elemente die Gegend abschnittsweise an den Meistbietenden verhökern, da es den braven Bürgern verboten ist, irgendetwas zu besitzen, aus dem eine Kugel rauskommt. Die Räuber gehen ganz nach Lust und Laune ihrem Handwerk nach – Häuser, Banken, Tankstellen, Supermärkte, nichts mehr ist vor ihnen sicher.
    Im Osten von West-Dementia dagegen wimmelt es nur so von Schusswaffen aller Art, von schlanken, kleinen, Pistolen, deren Magazin man innerhalb einer Minute herballern kann, bis hin zu mittleren Massenvernichtungswaffen. Es gibt buchstäblich keine Einschränkungen mehr. Und da das Angebot derart reichlich ist, fällt natürlich der Preis für die Waffen, und jeder kann sich eine leisten. Was dann geschieht, überrascht alle: Die Raubüberfälle gehen um fast siebzig Prozent zurück, nachdem ein gutes Dutzend Gauner auf frischer Tat erschossen wurde. Häuser, Banken, Tankstellen, Supermärkte – sie alle haben wieder Ruhe.
    Andererseits jedoch nimmt die Gewalt überhand. Auf alles, was da kreucht und fleucht, wird geballert – Wild, Autos, Menschen. Manche Leute veranstalten sogar Schießübungen auf die Fische im Fluss, und man hört, dass so manche Forelle an Schussverletzungen eingegangen sei.
    Es gibt Gerüchte von Schmiergeldzahlungen an den Aalglatten Remus, sowohl von der National Rifle Association als auch der Mafia, aber wie schon sein Name sagt, egal, was die Leute glauben, Remus ist und bleibt ein aalglatter Fisch, seine Miene allzeit gelassen und vertrauenswürdig.
    Sie grinste wie ein Honigkuchenpferd, rieb sich die Hände. Sie wollte den Aalglatten Remus zeichnen – jetzt gleich. Stifte mussten her! Einen Zeichentisch brauchte sie gar nicht, der kleine runde viktorianische Tisch in ihrem Zimmer reichte schon. Und die Sonne schien genau im richtigen Winkel herein.
    Lily konnte nicht länger warten. Sie schnappte sich Handtasche und Lederjacke und verließ die Frühstückspension im Laufschritt. Mrs. Blade, die hinter dem kleinen Tresen in der Eingangsdiele stand, winkte ihr noch nach. Lily kannte Eureka zwar nicht besonders gut, aber sie wusste, wo die Wallace Street lag. Dort lebten jede Menge Künstler, und einige davon besaßen Läden für Künstlerbedarf.
    Der Himmel war bewölkt, und es war fast so kalt, dass man den eigenen Atem sehen konnte; eine eisige Brise wirbelte die bunten Herbstblätter auf und verstärkte noch den würzigen Salzgeruch vom Meer. Sie erwischte ein Taxi, das gerade einen alten Mann vor einem Wohnblock abgesetzt hatte.
    Der Fahrer war Ukrainer, lebte seit sechs Jahren in Eureka; sein Sohn, der auf die Highschool ging, malte ebenfalls gerne – auf alles, was ihm in die Finger kam, wie der Fahrer erzählte, sogar Toilettenpapier, da fragte man sich doch, was für Vergiftungen man sich holte, wenn man dieses Papier dann benutzte. Ja, er wusste ganz genau, wo die Lady die besten Sachen bekam.
    »Sol Arthurs Künstlerbedarf« hieß das kleine Paradies. Nach dreißig Minuten war sie schon wieder draußen, von einem Ohr zum anderen grinsend, während sie ihre Päckchen auf beide Arme verteilte. Sie hatte vielleicht noch elf Dollar in der Tasche – mein Gott, ganze elf Dollar, das war alles. Sie fragte sich,

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