Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
und Westen, beide dominiert von großen Agrarreichen, in denen die alten Traditionen durch komplexe Priesterschaften gehütet wurden, etwa gleich gut (oder schlecht) dagestanden. Seuchen, Kriege und der Sturz mächtiger Dynastien sorgten im 17. Jahrhundert überall in Eurasien von England bis China dafür, dass das gesellschaftliche Gefüge auseinanderzubrechen drohte. Während aber die meisten Reiche das alte, streng orthodoxe Denken wieder einführten, nachdem sie die Krise überwunden hatten, entledigten sich die Protestanten in Nordwesteuropa des katholischen Ballasts.
Dieser Akt des Aufbegehrens gegen die Traditionen war es in Goldstones Augen, der dem Westen den Weg zur industriellen Revolution ebnete. Befreit von den Fesseln altertümlicher Ideologien legten europäische Wissenschaftler die Wirkungsweisen der Natur so gründlich bloß, dass britische Unternehmer, die deren pragmatische Sicht des Alles-ist-machbar übernahmen, Kohle und Dampf für sich nutzbar machen konnten. Um 1800 war der Westen eindeutig am Rest der Welt vorbeigezogen.
Dies allerdings, meint Goldstone, war keineswegs eine festgeschriebene Entwicklung. Und tatsächlich hätten ein paar zufällige Ereignisse genügt, um den Lauf der Weltgeschichte vollkommen zu verändern. Beispielsweise durchschlug 1690 in der Schlacht am Boyne eine Kugel aus einer katholischen Muskete die Epaulette von Wilhelm von Oranien, dem protestantischen Statthalter der Niederlande und König von England. »Nur gut, dass sie nicht näher dran war«, soll Wilhelm daraufhin gesagt haben 5 ; und wie recht er doch hatte, meint Goldstone, denn hätte die Kugel ein paar Zentimeter tiefer getroffen, wäre England wieder katholisch, Frankreich die stärkste Macht in Europa geworden, und die industrielle Revolution hätte möglicherweise nicht stattgefunden.
Kenneth Pomeranz von der Universtät Irvine geht noch weiter. Seiner Ansicht nach war schon die Tatsache, dass es überhaupt eine industrielle Revolution gab, ein Riesenzufall. Mitte des 18. Jahrhunderts, so argumentiert er, steuerte man im |29| Westen wie im Osten auf eine ökologische Katastrophe zu. Die Bevölkerung war schneller gewachsen als der technische Fortschritt, und die Menschen hatten bereits alles in ihrer Macht Stehende getan, um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern, die Warenzirkulation zu beschleunigen und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse zu reorganisieren. Sie waren an den Grenzen ihrer technischen Möglichkeiten angelangt, und alles deutete darauf hin, dass für das 19. und 20. Jahrhundert weltweite wirtschaftliche Rezessionen und ein Rückgang der Bevölkerung zu erwarten waren.
Dennoch war das wirtschaftliche Wachstum in den vergangenen zwei Jahrhunderten größer als in allen vorangegangenen geschichtlichen Epochen zusammen. Und das, so erklärt Pomeranz in seinem bedeutenden Buch
The Great Divergence
, liegt daran, dass Westeuropa und allen voran die Briten einfach Glück hatten. Wie Frank ist Pomeranz der Meinung, dass die Glückssträhne des Westens mit der zufälligen Entdeckung der beiden amerikanischen Halbkontinente begann, weil dadurch Handelswege erschlossen wurden, die einen Anreiz zur Industrialisierung der Produktion schufen. Im Gegensatz zu Frank behauptet er allerdings, dass diese Glückssträhne noch bis etwa 1800 durchaus hätte abreißen können. Um die frühen britischen Dampfmaschinen mit Holz zu befeuern, hätten riesige Ländereien aufgeforstet werden müssen, für die es im dicht besiedelten Europa keinen Platz gab. Doch hier kam dem Westen ein zweiter Glücksfall zupass: Als einzige Nation der Welt hatte England praktischerweise Kohlevorkommen ausfindig gemacht und im Eiltempo begonnen, Arbeitsprozesse zu mechanisieren. Um 1840 waren in Großbritannien kohlebetriebene Dampfmaschinen aus keinem Lebensbereich mehr wegzudenken, auch nicht aus dem Bau eisengepanzerter Kriegsschiffe, die sich den Weg über den Jangtse freischießen konnten. Um die Energie zu gewinnen, die jetzt mit Kohle erzeugt wurde, hätten die Briten weitere sechs Millionen Hektar Wald verfeuern müssen – Wald, der nicht vorhanden war. Die Revolution der fossilen Brennstoffe hatte begonnen, die ökologische Katastrophe war abgewendet (oder zumindest auf das 21. Jahrhundert verschoben) worden, und entgegen allen Wahrscheinlichkeiten regierte der Westen plötzlich die Welt. Es war keine seit langem festgeschriebene Entwicklung. Es war alles nur ein unverhoffter verrückter Zufall.
Die
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