Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
anderen für ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen, aber Bücher, in denen die Beiträge vieler gesammelt sind, erweisen sich im Allgemeinen als weniger geeignet, einheitliche Antworten auf große Fragen zu geben. Folglich ist die Methode, derer ich mich in diesem Buch bediene, eher ein
inter -
als ein
multi
disziplinärer Ansatz. Anstatt also die Exkursionen einer Gruppe von Spezialisten zu koordinieren, mache ich mich allein auf den Weg, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse vieler Fachgebiete zu sammeln und zu interpretieren.
Diese Methode birgt eine Reihe von Gefahren: Oberflächlichkeit, Fachblindheit und eben allgemeine Irrtümer aller Art. Ich werde nie ein so gründliches Verständnis der chinesischen Kultur haben wie jemand, der sein Leben lang mittelalterliche Handschriften gelesen hat, und ich werde hinsichtlich der menschlichen Entwicklung nie so auf dem Laufenden sein wie ein Genforscher (die Webseite der Zeitschrift
Science
wird angeblich im Schnitt alle 13 Sekunden aktualisiert; ich verliere also vermutlich, während ich diesen Satz schreibe, schon wieder ein |33| Stück weit den Anschluss). Andererseits werden diejenigen, die sich immer nur auf ihrem eigenen Fachgebiet tummeln, nie den großen Überblick gewinnen. Die interdisziplinäre Ein-Autor-Methode ist vermutlich die schlechteste Herangehensweise, um ein Buch wie dieses zu schreiben – wenn man von allen anderen absieht. Mir scheint sie eindeutig der am wenigsten schlechte Ansatz für mein Vorhaben zu sein, aber ob ich damit richtig liege, müssen Sie anhand der Ergebnisse beurteilen.
Was also sind die Ergebnisse? Wenn gefragt wird, warum der Westen die Welt regiert, dann, so behaupte ich in diesem Buch, geht es im Grunde um die Frage der gesellschaftlichen Entwicklung. Damit meine ich die Handlungsfähigkeit von Gesellschaften – das Vermögen, ihr materielles, ökonomisches, soziales und intellektuelles Umfeld nach ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu gestalten. Im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert war gesellschaftliche Entwicklung in den Augen westlicher Beobachter ein positives Faktum. Entwicklung ist gleich Fortschritt (oder Evolution oder Geschichte), so ihre unausgesprochene oder auch explizite Überzeugung, und Fortschritt – sei es hin zu Gott, zum Wohlstand oder zu einem Volksparadies – ist der Sinn des Lebens. Heutzutage erscheint das nicht mehr als so selbstverständlich. Viele Menschen sind der Meinung, dass die Zerstörung der Umwelt, die Kriege, die Ungleichheit und Ernüchterung, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung einhergehen, deren positive Aspekte bei weitem überwiegen.
Aber gleichgültig welche moralische Schuld wir der gesellschaftlichen Entwicklung anlasten, ist sie doch unbestreitbare Wirklichkeit. Fast alle Gesellschaften sind heute weiter entwickelt (in dem Sinne, in dem ich den Begriff im vorangegangenen Absatz definiert habe) als vor 100 Jahren, und einige Gesellschaften sind weiter entwickelt als andere. 1842 war die harte Wahrheit die, dass Großbritannien weiter entwickelt war als China – so weit entwickelt nämlich, dass der Einfluss der Briten um die ganze Welt reichte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es bereits zahllose Reiche gegeben, aber deren Macht war immer regional beschränkt gewesen. Doch 1842 waren britische Manufakturen in der Lage, den chinesischen Markt mit ihren Erzeugnissen zu überschwemmen, britische Industrielle konnten eisengepanzerte Schiffe bauen, die weltweit allen anderen überlegen waren, und britische Politiker hatten die Möglichkeit, Expeditionen um die halbe Welt zu schicken.
Wenn wir fragen, warum der Westen die Welt regiert, müssen wir eigentlich zwei Fragen beantworten. Wir müssen herausfinden, warum der Westen weiter entwickelt ist, also eher in der Lage ist, über seine Geschicke zu bestimmen, als alle anderen Gebiete der Welt; und wir müssen herausfinden, warum sich die Entwicklung des Westens in den letzten 200 Jahren so rasant vollzog, dass zum ersten Mal in der Geschichte einige wenige Staaten unseren ganzen Planeten beherrschen konnten.
Wir können diese Fragen meiner Meinung nach nur beantworten, indem wir uns die gesellschaftliche Entwicklung als ein Diagramm vorstellen, das im buchstäblichen |34| Sinne des Wortes die Konturen der Geschichte abbildet. Wenn wir das tun, werden wir feststellen, dass weder Theorien langfristiger Determiniertheit noch Zufallstheorien geeignet sind, diese Konturen zu erklären. Auf die erste Frage – warum
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