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Wer Schuld War

Titel: Wer Schuld War Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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vergessen worden. Klaus hebt einen Zipfel des Lakens hoch und erkennt gerade eben das Gesicht des Toten. Das
     reicht dann auch, mehr muss er im Moment nicht sehen, und er nickt dem Angestellten zu, der den Wagen eilfertig wieder in
     die Kühlkammer schiebt. Klaus verweilt eine halbe Minute allein in dem hohen, hell ausgeleuchteten, fensterlosen Raum, registriert
     die vergilbten Kacheln an den Wänden, die vier in Reih und Glied stehenden dunkelgrauen Obduktionswannen, die jetzt sauber
     geschrubbt und leer sind, dann kommt ein Pathologe aus der Kühlkammer heraus, fragt Klaus, ob noch etwas sei, und Klaus schüttelt
     den Kopf und fragt seinerseits, ob er den Chef sprechen könne, woraufhin der Pathologe ihn darüber informiert, dass Graf wahrscheinlich
     in seinem Büro sei. »Er ist heute superschlechtgelaunt«, fügt er warnend hinzu, und gemeinsam begeben sie sich zum Lift, der aussieht wie ein riesiger Safe, und der Pathologe
     langt mit einer für ihn typischen automatisierten Bewegung in seine Hosentasche, wo der Schlüssel für den Safe körperwarm
     verwahrt ist und schließt die schwere metallene Lifttür auf.
    Im ersten Stock muss Klaus aussteigen und verabschiedet sich.
    Graf ist ein gedrungener Mann Mitte fünfzig mit einer wie abgezirkelt wirkenden Glatze. An den Seiten und am unteren Hinterkopf
     wächst das kurze graue Haar dicht und voll, und manchmal fährt Klaus’ Blick an dieser scharfen Haarlinie entlang, als müsste
     er sie aus dem Gedächtnis zeichnen. Grafs Büro ist relativ groß und sieht aus, wie sich Klaus die Bibliothek eines verrückten
     Genies vorstellt; überall, in den Regalen, die alle Wände bedecken, auf Stühlen, Tischchen und der Fensterbank stapeln sich
     Bücher, und nicht nur solche, die sich mit forensischer Medizin befassen, sondern auch Brockhaus-Lexika, Bildbände über exotische
     Länder und riesige Folianten mit unleserlicher Schrift, die aussehen, als würden sie auseinanderfallen, wenn man sie anfasst.
     Also mutmaßen Klaus und seine Kollegen, dass Graf zu den Männern gehört, die am liebsten ihre gesamte Freizeit am Arbeitsplatz
     verbringen, ein Verdacht, der sich schon deshalb aufdrängt, weil nicht einmal bekannt ist, ob Graf verheiratet ist. Einen
     Ehering trägt er jedenfalls nicht.
    »Sie hätten mich auch anrufen können«, sagt Graf mit heiserer, brüchiger Stimme. Seine braunen Augen sind umschattet, die
     Partie um Mund und Nase sieht ungesund gerötet aus, und er ist schlecht rasiert. Aber Klaus fragt ihn nicht, ob er eine lange
     Nacht hinter sich habe, niemand würde Graf so etwas fragen, das gehört sich einfach nicht, stattdessen lehnt er sich zurück
     und registriert mit einemgewissermaßen heimeligen Behagen das Geruchsgemisch nach staubigem Papier und altem Zigarettenrauch. Grafs Büro gehört zu
     den wenigen öffentlichen Räumen, in denen noch nach Herzenslust gequalmt werden darf, was natürlich daran liegt, dass Graf
     selbst diesem Laster frönt und es sich nie von jemandem verbieten lassen würde.
    »Ich bin immer gerne vor Ort«, sagt Klaus und zündet sich eine Marlboro an. Er zählt zu den Leuten, die Graf mit seiner muffigen
     Art nicht einschüchtern kann; es kommt ihm im Gegenteil sogar logisch vor, dass Graf häufig in miserabler Stimmung ist. Immerhin
     beschäftigt er sich täglich mit dem Tod, und wer das so tut wie Graf, kann sich keinen Illusionen über das Gute im Menschen
     hingeben, genauso wenig wie Klaus übrigens, denn jede Leiche, die Graf zu untersuchen, jeder Tod, dessen Umstände Klaus zu
     ermitteln hat, ist ja naturgemäß verdächtig, manche der Toten sind in einem schrecklichen Zustand, weil sie erst nach Wochen
     oder Monaten gefunden werden, sie sehen aus wie Abfall und stinken wie Gift, und dahinter steckt immer etwas noch viel Hässlicheres
     als der ohnehin schon unappetitliche äußere Anschein. Und so fühlt sich Klaus mit Graf auf gewisse Weise verbunden, scheint
     er ihm wie ein Bruder im Geiste, trotz des Altersunterschieds von mindestens zwanzig Jahren, und obwohl Graf diese freundlichen
     Gefühle keineswegs zu teilen scheint.
    »Was ist mit Paul Dahl?«, fragt Klaus.
    »Ich habe Ihnen längst eine E-Mail geschickt, Kreitmeier. Haben Sie sonst nichts zu tun?«
    »Sie meinen, weil ich hier bei Ihnen herumhänge und mich dumm anreden lasse?« Klaus grinst, Graf nicht, stattdessen wühlt
     er in einem Papierhaufen, und zieht schließlich ein paar zusammengeheftete Blätter heraus, die er Klaus

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