Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
nach ihrem Tod in diesen Rahmen gekommen war. Es hatte über dem Bett meines Vaters gehangen. Ich besaß nur wenige Erinnerungen an meine Mutter, und nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich ihr wohl ähnlich sah. Der Maler hatte ihre Augen grau-blau dargestellt. Meine waren grau. Ihr Haar hatte einen leichten Rotton, doch meines war dunkelbraun. Mary Newling, unsere Haushälterin, hatte mir erzählt, dass mein Vater nie über den Tod seiner geliebten Frau hinweggekommen sei. Ich glaubte ihr gerne. Auch wenn er ein ausgeglichener, freundlicher Mann gewesen war, hatte ich stets eine tiefe Traurigkeit hinter jedem Lächeln gespürt. Ich legte das Porträt flach auf die Frisierkommode, bis ich Zeit fand, es an der Wand aufzuhängen.
Auch in diesem Zimmer hingen zahlreiche Bilder an den Wänden, genau wie sonst überall im Haus. Wenigstens blieben mir hier langhaarige Highland-Rinder erspart, die mich aus blauem Dunst heraus anstarrten. Stattdessen gab es mehr italienische Landschaften und eine ganz besonders hässliche Darstellung in Öl von einer weinenden Gestalt in schwerem Flor, umgeben von dunklen Bäumen und etwas, das aussah wie Grabsteine. Ich nahm mir vor, dieses Bild bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abzuhängen und zu verstecken.
Ich öffnete die lackierte Schachtel und sah inmitten meines Schmucks ein kleines Stück aus grauem Schiefer. Es war mein Talisman, der mir vor langer Zeit geschenkt worden war und mir Glück bringen sollte. Es war auf seine Weise ein höchst ungewöhnliches Stück, mit dem Abdruck eines winzigen Farns auf der Vorderseite. Ich nahm es hervor und drehte es so, dass sich das Licht darin fing; dann legte ich es behutsam wieder zurück. Von nun an würde ich mir mein Glück selbst erschaffen müssen, sollten sich mir in Zukunft weitere Hindernisse in den Weg stellen. Das erste davon war gleich an diesem Abend zu erwarten, wenn ich dem Rest des Haushalts vorgestellt wurde.
Ich seufzte. Ich war so voll mit Kuchen und Muffins, dass ich mir nicht vorstellen konnte, an diesem Tag noch etwas herunterzubringen. Zu Hause hatten wir unsere tägliche Hauptmahlzeit auf altmodische Weise mittags eingenommen. Dies war meinem Vater zupassgekommen, der morgens Patienten in seiner Praxis empfangen hatte und nachmittags zu seinen bettlägerigen Patienten gefahren und häufig erst spät in der Nacht wieder nach Hause gekommen war. Wir pflegten dann ein einfaches Abendessen vor dem Kamin einzunehmen, meistens Toast und vielleicht, wenn es Winter war, eine von Mary Newlings deftigen Suppen aus Wurzelgemüse in Fleischbrühe. Der Gedanke an die ›gute englische Küche‹, die mich an diesem Abend erwartete, erfüllte mich mit Furcht.
Auch fürchtete ich, dass ich als Bauerntölpel erscheinen könnte, selbst in meinem besten Kleid. Doch ich trug noch immer Halbtrauer wegen meines Vaters, und deswegen konnte niemand von mir erwarten, dass ich mich herausputzte wie eine Modepuppe.
Kurz nach sieben ging ich hinunter. Ich hatte mein Haar zu einem einfachen Knoten zusammengesteckt und mir einen Schal aus Nottingham-Spitze über das Miederoberteil meines Kleids gelegt, das Nugent wunderbar gebügelt zurückgebracht hatte. Ob es reichte oder nicht, ich hatte nichts anderes. So früh ich auch war, die übrige Gesellschaft hatte sich bereits eingefunden.
Ich fand sie im großen Salon vor, der noch größer war als der Privatsalon, den ich bereits kannte, und noch kostbarer möbliert. Erneut brannte ein prächtiges Feuer in dem mit Marmor eingefassten Kamin. Tante Parry begrüßte mich überschwänglich. Sie war, was Mary Newling als einen Anblick für müde Augen beschrieben hätte. Ihr seidenes Kleid war in einer der noch immer neuen Farben gehalten: Magenta. Ihre Spitzenhaube war verschwunden und ihr kastanienbraunes Haar dank Nugents Geschick auf außergewöhnliche Weise frisiert. Es war zu beiden Seiten des Kopfes über ihren Schläfen in je eine dicke Locke gelegt, und hinten hingen zahlreiche falsche Löckchen herunter. Von den Ohrläppchen baumelten Ringe mit großen grünen Edelsteinen darin. Eine dazu passende Halskette und mehrere Armreifen vervollkommneten ihren Putz. Ich hoffte, dass alles nur Tand war, und glaubte es auch – selbst ein indischer Radscha hätte Mühe gehabt, derart viele echte Smaragde zu finden.
Vor dem Kamin standen zwei fremde Gentlemen. Sie waren in eine angeregte Unterhaltung vertieft, als ich eintrat, doch sie wandten sich unverzüglich um und starrten mich an.
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