Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
gerade rechtzeitig für eine kleine Zwischenmahlzeit, die ich nicht recht zu würdigen wusste. Wenn sie tatsächlich immer so spät aufstand, bedeutete dies, dass ich morgens frei hatte und meinen eigenen Interessen nachgehen konnte, und das war sehr ermutigend.
Ich war nach dem Frühstück im Haus geblieben für den Fall, dass sie womöglich doch früher nach unten kam. Den größten Teil der Zeit verbrachte ich in der Bibliothek. Ich fand Schreibpapier und Tinte und nahm mir ein wenig Zeit, um an Mrs Neale zu schreiben, die freundliche Nachbarin, die mich vorübergehend bei sich zu Hause aufgenommen hatte, nachdem ich das Haus in Derbyshire verkauft hatte. Sie war besorgt gewesen wegen meiner Abreise nach London, einer fremden, riesigen Stadt, wo ich mich unter lauter fremden Menschen bewegen würde. Mrs Neale hatte ihre Heimatgemeinde noch nie verlassen, und für sie war ›fremd‹ gleichbedeutend mit ›bedrohlich‹. In meinem Brief berichtete ich ihr, dass die Reise hierher ohne größere Probleme verlaufen war und dass meine Zukunftsaussichten sehr gut seien. Ich war sicher, dass diese Nachricht von mir bald in der gesamten Gemeinde zirkulieren und das einzige Gesprächsthema sein würde. Ich versiegelte den Brief mit einem Stück Wachs aus einer Schale auf dem Schreibtisch und trug ihn nach draußen in die Halle, wo mir eine kleine schwarze Holzkiste für die Post aufgefallen war, die aus dem Haus ging. Ich schob meinen Brief hinein, fest entschlossen, meine Korrespondenz selbst zum Postamt zu bringen, sobald ich erst herausgefunden hatte, wo es lag. Falls ich überhaupt noch irgendwelche Briefe in meinem eigenen Namen schreiben würde, heißt das.
Später am Nachmittag kam eine Mrs Belling zu Besuch. Ich erinnerte mich, dass Belling der Name der Frau gewesen war, die Madeleine Hexham ›gefunden‹ und im Haushalt von Tante Parry vorgestellt hatte. Ich war neugierig auf sie, doch mein erster Eindruck war nicht vorteilhaft. Sie war schick gekleidet in eine jener neumodischen Krinolinen, die weit weniger übertrieben daherkamen als jene, die vorher den Gipfel des Wünschenswerten dargestellt hatten. Die Röcke hatten dadurch eine mehr kegelartige Form. Auf ihrem Kopf über einem Chignon, der sicherlich falsch war (das Haar des Knotens war dunkler als der Rest), saß eine modisch schicke Casquette. Mrs Bellings Gesichtszüge waren scharf, ihre Nase lang und spitz. Sie erinnerte mich irgendwie an einen Vogel, vielleicht eine Dohle, listig und verschlagen. Sie stellte mir eine Vielzahl von Fragen über meine Person, meinen Vater, meinen Geburtsort und alles Mögliche, was ihr sonst noch so einfiel, und alles auf die denkbar direkteste Art. Ich empfand es als Unhöflichkeit von ihrer Seite. Schließlich war ich nicht nach London gekommen, um in ihre Dienste zu treten! Zu guter Letzt schien selbst Tante Parry zu der Ansicht zu gelangen, dass die Fragen ihrer Freundin ein wenig zu weit gingen, und sie unterbrach sie nach einigen Minuten, indem sie sich nach dem Befinden des Sohnes von Mrs Belling erkundigte, eines James’.
Diesen Namen hatte ich ebenfalls schon einmal gehört. Frank hatte erwähnt, dass James Belling ein Fossiliensammler sei. Mrs Belling jedenfalls verlor das Interesse an mir und begann, sich in den Tugenden und der erstaunlichen Intelligenz von James und ihrer weiteren Nachkommenschaft zu ergehen. Es gab, so viel entnahm ich ihren Worten, zusätzlich zu James noch eine Tochter, die verheiratet und gegenwärtig in anderen Umständen war. Eine weitere, jüngere Tochter würde in nächster Zeit heiraten, und ein jüngerer Sohn war in einem Internat untergebracht. Auch auf ihn wartete ohne jeden Zweifel eine brillante Zukunft. Wo genau James in dieser Liste von Geschwistern stand, vermochte ich nicht zu enträtseln. Ich schätzte, dass er ein Altersgenosse von Frank Carterton und damit entweder der älteste oder doch wenigstens der zweitälteste (nach der verheirateten Tochter) der Sippe war. Ich war jedenfalls erleichtert, als Mrs Belling endlich ging, und hatte den Eindruck, dass Mrs Parry ebenfalls nicht traurig war über den Abschied ihrer Freundin, wenigstens nicht bei dieser Gelegenheit.
Wir sollten allerdings nicht lange ohne Besuch bleiben. Minuten später tauchte Simms vor der Tür auf, und seine ansonsten so leidenschaftslose Miene war zur Abwechslung endlich einmal recht lebhaft. »Ich bitte um Verzeihung, Madam«, sagte er aufgeregt, »aber hier draußen steht ein Polizeibeamter, der
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