Wer sich nicht wehrt
Ayfer, wenn sie aufgeregt war, Fehler, sagte, wenn sie sprach, die Wörter falsch. Aber weil nicht jeder, auch nicht jeder von uns Deutschen, wusste, wie man richtig sprechen muss, fielen ihre Fehler meist nicht auf.
»Nachsehn, wo die beide wohnen«, wiederholte sie noch einmal. Doch der Vorschlag war, als wir durch den warmen Nachmittag langsam Richtung Stadtpark liefen, schon vergessen. Dummerweise. Hinter einer Biegung bei den Bäumen warteten die Brüder. Unvermittelt standen sie vor uns und verstellten uns den Weg.
Ich hatte wieder das Gefühl, das ich aus meinen Träumen kannte: Es gab, obwohl wir sechs waren, kein Entkommen.
Die Brüder kamen auf uns zu. Sehr gemächlich. Ihre Schuhe scharrten über grobkörnigen Kies.
In mir Bilder: Ich am Boden, nah den Stufen einer Treppe, ich am Boden, auf den Stufen, ich am Boden, nur die Wangen, nur mein Kiefer, Unterkiefer auf der Stufe, dann das Knacken, ich den Kopf am Stein, die Lippen schmecken Blut, weil mir der Absatz ihrer blank polierten Stiefel den Kiefer an der Treppenstufe bricht.
Wir blieben stehen, die Brüder gingen auf Sürel zu. Wir sagten leise, kaum hörbar: »Lasst ihn in Ruhe, verschwindet!«
Doch die Brüder kamen ohne Eile näher.
Ayfer stellte sich schützend vor Sürel, aber Sürel schob sie – »Kommt doch her, ihr Wichser!« – ungeduldig weg.
Kai machte zögernd einen Schritt. Einer, ich glaube Eberhard, zerschlug ihm seine Brille.
Kai fiel vornüber auf den Kiesweg. Es wirkte wie in einem Film, der unvermittelt langsam läuft. Ohne Ton, nur manchmal hört man ein Geräusch.
Es sah so aus, als schnappte Kai mit offnem Mund nach dunklem Dreck. Nur als Reflex hob er, bevor der Kahlkopf zutrat, die dünnen Arme, seine schmalen Hände über den großen Kopf.
Man konnte sehen, wie die Haut an Hand und Fingerknöcheln unter den raschen Tritten aufriss. Man konnte, selbst wenn man die Augen schloss, erkennen, wie das Blut aus Kais Kopf den dunklen Dreck noch dunkler werden ließ, ein Fleck zwischen Kies und Erde.
Wenn mich jemand angesehen hätte, hätte er bemerken können, wie der Anblick von Kais Blut mich erstarren ließ. So, dass mir die Glieder nicht mehr gehorchten und ich, in meinem Körper eingesperrt, neben den andern stehen bleiben musste.
Und während ich mich wunderte, dass Kai nicht schrie, nicht einmal stöhnte, hängte sich erst Lisa, danach Ayfer an die Arme Eberhards, und sie zogen ihn von Kai ein Stückchen weg. Bevor es Eberhard gelang, sich zu befreien, und er die beiden Mädchen, die sich noch mal auf ihn warfen, in ein Gebüsch mit Dornen stieß, schaffte es Lisa, ihn zu kratzen: Die langen weißen Striche in seinem Nacken füllten sich mit Blut.
Währenddessen stieß Karl-Heinz, ein kurzes Nicken, Franco die Stirn ins Gesicht. Franco kippte auf die Wiese, saß dort, schüttelte benommen seinen Schädel, klapperte mit den Augenlidern und blieb hocken. Die Arme knickten etwas ein, als er sich auf die Knie drehte. Und deshalb gab er auf, verharrte so, wie er auf dem Rasen saß, und leckte bloß das Blut von seinen Lippen.
Während Sürel sich vergeblich gegen die beiden Brüder wehrte, blieb ich immer noch bloß stehen wie gelähmt und wartete, ob einer der Kahlrasierten nicht auch mich schlagen würde. Aber das wollte keiner der beiden. Es ging mir wie so oft: Man übersah mich.
Sie traten nur nach Sürels Rippen und manchmal gegen seinen Kopf, nachdem sie ihm die Beine gemeinsam weggeschlagen hatten und niemand mehr da war, der ihm half. Während Sürel versuchte, hauptsächlich seinen Kopf vor den blank polierten Stiefeln der Brüder zu schützen, ächzte er hin und wieder und ich stand neben ihm. Wie Kai hob er die Arme, es sah schwach und hilflos aus. Die Brüder sagten kein Wort. Sie waren wie Maschinen. Die Beine, die nach dem Verkrümmten traten, waren wie Pleuelstangen aus Stahl. Sie fuhren regelmäßig nach vorn und dann zurück.
Und keiner von uns rief etwas oder bewegte sich auch nur. Es war, als hätte jemand den Figuren eines Karussells plötzlich den Stecker rausgezogen. Wir sahen nur zu und wussten, dass alles anders werden würde als vorher.
3
Als man uns am nächsten Morgen vor der Schule fragte, woher wir die Schrammen hätten, schwiegen wir. Die Brüder schwiegen ebenfalls. Wieder flatterte Frau Schubert, um sich einen süßen Duft aus Parfüm und Deo, unstet durch das Klassenzimmer, während sie vorn an der Tafel Schaubilder entstehen ließ: Karl der Große, Kaiserkrönung, Schlachten,
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