Wer sich nicht wehrt
Feldzüge und Seuchen, alles einmal umgerührt. Schaubilder gefielen ihr, auch wenn niemand von uns sie verstand.
Wieder fiel die weiße Sonne zwischen windbewegten Blättern auf den Boden. Wieder war es warm und hell. Einzig Sürel lag zu Hause mit geprellten Rippen, einer Platzwunde. Und Kai trug an einer Hand einen Verband.
Nichts geschah. Die große Pause kam und ging vorbei. Wir blieben im Klassenzimmer. Denn obwohl wir genau wussten, wie man sich verhalten muss – dass man Ältere nicht ansieht, ihnen nicht zu lange ins Gesicht schaut und schon gar nicht in die Augen, dass man ihnen aus dem Weg geht, auch bestimmte Gegenden meidet und am Freitagabend nicht mit jeder S-Bahn oder U-Bahn fährt –, wussten wir nicht, was wir angesichts der Brüder machen sollten. Jedes Mal, ehe man anfing, sich mit einem andern rumzuprügeln, gab es zuerst einen Ablauf: schubsen, pöbeln, rempeln, buffen. Niemand würde sofort losschlagen, nur einfach so. Und keiner würde jemanden, der vor ihm auf dem Boden lag, mit Stiefeln treten und nichts dabei sagen.
Dass die beiden Brüder geschwiegen hatten, als sie Kai und Sürel im Park zusammenschlugen, machte es beinah noch schlimmer. Das Schweigen der beiden war schrecklich gewesen, weil sie dadurch nicht zornig oder wütend wirkten, sondern kalt und berechnend.
Wir warteten das Ende der letzten Stunde nicht mehr ab.
Wir sprangen kurz vorm Klingeln auf, liefen durch den Seitenausgang, rannten fast die Schultreppe hinunter.
Und auch als uns die Brüder weder im Park erwarteten noch irgendjemanden verfolgten, wurden wir nicht langsamer. Im Gegenteil, wir schauten uns ständig nervös nach ihnen um.
Natürlich hätten wir uns fortan von Ayfers Onkeln und Cousins abholen lassen können, bis die Kahlköpfe genügend eingeschüchtert waren. Ayfers Onkel wussten, was man hätte machen müssen. Türken wissen so was meistens besser als die Deutschen.
Aber wir, wir hätten ratlos im Fond eines Wagens gesessen und uns dabei geschämt. Wir wären im Polster eines Straßenkreuzers versunken, um uns Chrom und weiches Leder. Wir hätten uns hinter den Scheiben auf dem Rücksitz klein gemacht.
Wir hätten uns geduckt, und jeden Morgen hätte uns ein anderes Auto bis zum Schulhoftor gebracht. Denn Ayfers Onkel handelten mit Autos – die manchmal fuhren, manchmal nicht.
Und vielleicht hätten Ayfers Cousins irgendwann sogar etwas gegen die Glatzenköpfe unternommen. Sie sagten: »Glatzenköpfe.« Doch danach hätten wir uns immer noch geschämt.
Deshalb sagten wir niemandem etwas von den Kahlrasierten: weder Ayfers Onkeln noch ihren Cousins. Sondern wir beschlossen selbst zu handeln.
4
»Wir hatten es uns vorgenommen«, sagte Ayfer ärgerlich. »Wir wollten ihnen folgen. Wollten sehen, wo sie wohnen, was sie tun. Und wir wollten rausbekommen, warum sie so sind, wie sie gestern waren. Damit wir dann alles … Und warum steht ihr jetzt bloß …?« Ayfer biss sich auf die Lippen und brach mitten im Satz ab. Dann schaute sie jeden von uns lange an.
»Stimmt schon«, sagte Kai. Er tastete nach seiner Brille, die er nach der Schlägerei mit zwei Streifen Leukoplast repariert hatte. »Das ist eigentlich schon richtig.« Kai fuhr mit den Turnschuhspitzen sanft über die Gehwegplatten, zeichnete die Fugen nach. »Aber auf der andern Seite kann es auch gefährlich werden.«
»Besonders wenn es dunkel wird.« Lisa pflichtete ihm bei. »Ist schon kurz nach acht.« Sie deutete auf die Uhr an einer Haltestelle.
Franco murmelte: »Und wir waren hier noch nie. Sollte man ja auch bedenken, oder?«
Plötzlich sahen alle mich an, weil ich wieder nichts gesagt, sondern nur gewartet hatte, was die anderen entscheiden würden. Diesmal schwieg ich nicht nur, weil ich meistens wenig sagte. Diesmal schwieg ich, weil ich wusste: Wenn ich meine Lippen öffnen würde, wenn ich meine Vorderzähne nicht mehr aufeinanderpresste, würden sie in meinem Mund anfangen zu klappern. Denn wir standen an der Kreuzung, hinter der das Kastenviertel mit dem dunklen Park begann.
Wir nannten es so, weil die Häuser aussahen wie Schuhkartons. In das Kastenviertel gingen wir fast nie. Die Türken mieden es besonders.
Denn die Leute, die dort wohnten, mochten Hunde, aber Türken allenfalls als Straßenkehrer. An den Wochenenden schraubten die Männer an ihren zierleistenbesetzten Autos oder wuschen sie – der Lack spiegelte die tief stehende Sonne. Wenn sie die Motorhaube wachsten oder die Kotflügel picobello polierten,
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