Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
Vom Netzwerk:
geschah, ist schwierig eins nach dem andern zu erzählen, obwohl ich nah bei Ayfer stand. Denn die Dinge kamen durcheinander.
    Ayfer wich, obwohl es viele sicherlich erwartet hatten, nicht zurück. Sie nahm die Finger des großen, breiten Kahlkopfs einzeln und vorsichtig, als seien sie zerbrechlich, zwischen ihre Fingerspitzen, sammelte sie sorgfältig vorn von ihrem hellen T-Shirt ab.
    Ihr Gesicht war dabei leer, durchsichtig wie Wasser. Nur die Augen brannten schwarz, tief versteckt in ihren Höhlen.
    Glatze 1 tat nichts dagegen. Er besah sich weder seine Hände noch die Ayfers, zog die Pranken auch nicht vor ihr weg. Nur das Lächeln, das er sich aufs Gesicht geheftet hatte, schien ihm auf den Lippen zu gefrieren.
    Aber er hielt wie unter Hypnose still, folgte mit den Augen jeder der Bewegungen – Ayfer war mit einem Mal wieder eine Türkin. Nicht mehr nur dem Namen nach, sondern ganz: ihr Kopf, der Körper. Plötzlich hatte jemand etwas in ihr aufgerissen, das man sonst im Alltag nicht bemerkte. Doch das sah vielleicht nur ich.
    Klar, auch jedes deutsche Mädchen hätte sich erschrocken: Keiner von uns legte unvermittelt seine Hand auf den Busen eines Mädchens. Aber jedes deutsche Mädchen hätte laut geschimpft und wäre nicht bloß innerlich erstarrt wie die Frau der Bibel, die zu Salz wird.
    All das ahnte wohl auch der Kahlkopf, aber er war erst einmal verblüfft. So, als wäre ihm unvermutet etwas in der Hand zerbrochen. Auch als einige von uns anfingen ihn auszubuhen, tat sich wenig. Er blieb stehen, ebenso wie Ayfer. Doppeldenkmal aus Beton, auf dem sogar Vögel hätten landen können.
    Das Ganze dauerte nicht länger als ein paar Sekunden. Als Sürel vorschnellte und sich auf den Kahlkopf warf, wie ein wild gewordener Hamster an ihm hing und nach seinen Beinen trat, schubste der Kahlrasierte Ayfer zwischen Tisch und Stühle, dass es krachte.
    Immer noch schien alles Blut aus ihrem Gesicht gewichen. Wie ein Sack fiel sie zu Boden. Hielt sich nicht mal an den Möbeln, die zur Seite kippten, fest. Glatze 2 umfasste Sürel, riss ihn hoch und warf ihn hinter Ayfer her.
    Jetzt erst konnte man erkennen, dass sich die Gesichter der Kahlköpfe wie in blindem Hass verzerrten. Beide sprangen vor und holten mit den schweren Stiefeln aus, die sie trotz der Hitze trugen. Und die meisten von uns wichen noch mal bis zur Tür zurück. Nicht allein aus Feigheit oder Angst vor Schlägen. Auch weil wir überrascht waren, zu erstaunt, um etwas tun zu können. Denn alles kam so unvermittelt, ohne jede Vorbereitung. Niemand von uns hatte es erwartet.
    Doch bevor die beiden Sürel oder Ayfer treten konnten, kam Frau Schubert – Maren – zurück in die Klasse.
    Wieder der Geruch des Deos, wieder flatterte ihr Kleid, wieder ignorierte sie, was sie doch sehen musste, wünschte uns, als wäre nichts, ein fröhliches: »Hallo!« Einer von Marens Einfällen: Damit sich niemand benachteiligt vorkam, hatte sie unsere Sitzplätze, jeweils zu Paaren, neu verlost.
    Ayfer und Sürel saßen vorn, die Brüder schräg dahinter. Frau Schubert hatte sie inzwischen vorgestellt: Karl-Heinz und Eberhard Janetzki. Wir nannten sie: die Brüder. Oder eben heimlich Glatze 1 und Glatze 2.
    Ich saß hinten, neben Franco. Deshalb konnte ich die Klasse überschauen. Konnte sehen, wie die Brüder sich noch einmal vorbeugten zu Sürel und ihm drohten, ehe der Unterricht begann. Ich wusste, ohne dass ich hören musste, was sie sagten: Sie würden auf ihn warten. »Scheiß-Kanake! Nach der letzten Stunde, Arschloch! Um halb zwei!« Ich sah auch, dass Sürel, obwohl er genauso blass wie Ayfer war, sich umdrehte und den gestreckten Finger – »Fickt euch selber!« – hob und auch noch lächeln wollte. Aber das gelang ihm nicht. Es blieb ein ungeschicktes Grinsen. Und man sah, dass ihm sogar das verrutschte Feixen Mühe machte.
    Während vorn der Unterricht begann und Ayfer immer noch die Arme wie ein Kreuz vor ihre Brust hielt – noch immer wirkte sie verstört, noch immer nicht wie Ayfer, die wir kannten –, tauchte ich langsam in vertrauten Bildern, die wie Filme waren, unter.
    Ich sah vor mir die Rücken, die breiten Körper, kahlen Köpfe, und obwohl ich mich dagegen wehrte, wurden die Brüder zu Gestalten, die nicht nur die Wörter kannten: Baseballschläger, Gaspistolen, Schreckschuss mit durchbohrtem Lauf, Tschakos oder Schusterahlen, Schlagringe und Fahrradketten, Wurfsterne und Butterflymesser mit mehreren Klingen. Die Gestalten, die ich sah,

Weitere Kostenlose Bücher