Wer stirbt, entscheidest du
D.D.’s Soldstufe überstiegen. Mit anderen Worten, kein anderer als Cal Horgan, der stellvertretende Leiter des Morddezernats, sollte auf seine unverschämten Forderungen antworten.
D.D. konnte sich nicht zurückhalten.
«Wir veranstalten keine Ausflüge», fuhr sie erbost fort. «Tessa Leoni will endlich auspacken? Schön. Bobby und ich könnten in zwanzig Minuten in ihrer Zelle sein und uns einen Lageplan von ihr zeichnen lassen.»
Horgan sagte nichts, was als Zustimmung aufgefasst werden mochte.
«So geht das nicht», entgegnete Cargill. «Sie ist für eine Weile mit dem Wagen herumgeirrt und kann sich nicht mehr genau erinnern, wo sie angehalten hat. Aber wenn sie wieder in der Nähe ist, und die ein oder andere markante Stelle wiedererkennt, wird sie an den Ort zurückfinden.»
«Sie weiß nicht mehr, wo genau?», fragte Bobby skeptisch.
«Sie könnten eine Hundestaffel mobilisieren», schlug Cargill vor.
«Ein Kadaverteam meinen Sie wohl», erwiderte D.D. bitter. Sie ließ sich auf ihren Stuhl zurückfallen und verschränkte die Arme über dem Bauch. Sie hatte von Anfang an geahnt, dass für die kleine Sophie mit den braunen Locken und den blauen Augen keine Hoffnung auf Rettung mehr bestand. Trotzdem – jetzt und ausgerechnet von Tessas Anwalt dazu aufgefordert zu werden, ihren Leichnam zu bergen …
Manchmal konnte dieser Job verdammt hart sein.
«Hat Ihre Mandantin erwähnt, wie die Kleine ums Leben gekommen ist?», fragte Bobby.
Cargill warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu. «Nein.»
«Sie gesteht also immer noch nicht», fuhr Bobby fort. «Stattdessen will sie, dass wir sie aus dem Gefängnis abholen und zu einer Fahrt ins Blaue mitnehmen. Ganz schön frech.»
«Sie wäre heute Vormittag fast getötet worden», erklärte Cargill. «Sechs Frauen sind über sie hergefallen, während ein als Frau verkleideter Mann die Aufseherin in Schach hielt. Hätte sich Trooper Leoni nicht erfolgreich zur Wehr gesetzt, wäre Officer Watters jetzt wahrscheinlich tot. Und Tessa ebenfalls.»
«Schutzbehauptung», kommentierte Bobby.
«Noch eine ihrer haarsträubenden Geschichten», fügte D.D. hinzu.
Cargill schaute sie an. «Haarsträubend, in der Tat. Und unbestreitbar. Ich habe mir die Aufzeichnungen der Überwachungskameras angesehen. Zuerst attackierte dieser als Frau verkleidete Mann die Aufseherin, dann fielen sechs Frauen über Tessa her. Sie kann von Glück sagen, dass sie noch am Leben ist. Und Sie, meine Herrschaften, sollten sich freuen, dass meine Mandantin trotz des Schocks, den sie erlitten hat, zur Kooperation bereit ist.»
«Kooperation», bemerkte D.D. «Habe ich richtig verstanden? Für mich heißt Kooperation gegenseitige Unterstützung. Uns wäre geholfen, wenn sie eine Karte zeichnet, ausgehend von Landmarken, an die sie sich erinnert. Und sie könnte uns sagen, wie ihre Tochter ums Leben gekommen ist. Besser noch, sie könnte gleich reinen Tisch machen. Das wäre Kooperation. Aber darum geht es ihr gar nicht, wie es scheint.»
Cargill zuckte mit den Achseln und wandte sich an den stellvertretenden Departmentleiter. «Ich weiß wirklich nicht, wie lange meine Mandantin noch bereit ist zu kooperieren . Der Vorfall von heute Morgen hat sie traumatisiert. Ob sie auch heute Abend noch zu ihrer Mithilfe steht, kann ich nicht sagen. Vielleicht verstummt sie wieder. Und das wäre doch schade, denn ich könnte mir vorstellen, dass die Bergung der Leiche von Sophie Leoni einen Großteil Ihrer Fragen beantwortet. In Form von Spuren und Hinweisen, meine ich. Es mangelt doch vermutlich immer noch an Beweisen gegen meine Mandantin, nicht wahr?»
«Sie geht zurück ins Gefängnis», sagte Horgan.
«Wie bitte?» D.D. stieß einen Schwall Luft aus.
Cargill ignorierte sie. «Selbstverständlich», sagte er mit Blick auf Horgan.
«Und sie trägt Handschellen, die ganze Zeit.»
«Auch das versteht sich von selbst.» Nach einer kurzen Pause schlug Cargill vor: «Vielleicht sollten Sie sich mit dem Sheriffbüro von Suffolk County absprechen. Es ist nach wie vor für ihren Fall zuständig und wird wohl einen eigenen Begleitschutz stellen wollen.»
Horgan verdrehte die Augen. Ein Streit um Zuständigkeiten war genau das, was sie jetzt noch brauchten.
«Wie weit ist es bis zum Fundort?», fragte er.
«Eine knappe Autostunde.»
D.D. warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war halb zwölf. In sechs Stunden würde die Sonne untergehen. Die Zeit drängte. Sie starrte ihren Chef an und wusste nicht
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