Wer war Jesus
in der Apostelgeschichte des Lukas, deren zweiter Teil ausschließlich Paulus gewidmet
ist. Seine Person steht demnach im Mittelpunkt eines knappen Drittels des gesamten Neuen Testaments. Kein Wunder, dass sie
in der Kirchengeschichte eine ungeheure Wirkung entfaltete und dass ganze Bibliotheken über ihn geschrieben wurden. Im 16.
Jahrhundert spaltete sich die westliche Christenheit an der Auslegung der Rechtfertigungslehre des Paulus in zwei Blöcke.
Das hat politisch bis heute einschneidende Folgen.
|57| Paulus wurde etwa zur gleichen Zeit wie Jesus in der südsyrischen Metropole Damaskus geboren. Er war Diaspora-Jude und hatte
das römische Bürgerrecht von seinem Vater ererbt. Damit hatte er Teil an zwei Welten, der jüdischen und der griechisch-römischen.
Zwar waren dem Kontakt zu Griechen gewisse Schranken auferlegt, und das Studium griechischer Klassiker fand im Umkreis des
jungen Paulus mit Sicherheit nicht statt. Doch empfing er eine durch das hellenistische Judentum vermittelte Grundschulbildung,
die den Unterricht in der griechischen Sprache einschloss.
Auch blieben Eindrücke aus der Umgebung haften, die sich später in den Briefen widerspiegeln. Paulus besuchte das Theater,
verfolgte die Wettkämpfe in der Arena und wurde auf dem Markt Zeuge von philosophischen Wortgefechten. Mit anderen Worten,
er wurde der hellenistischen Welt ansichtig, ihrer Weite und Schönheit, aber auch der ihr innewohnenden Vernunft. Dabei mag
bereits in der Seele des jungen Paulus die Sehnsucht geschlummert haben, eines Tages Teil dieses großen Kosmos zu werden.
Vorerst gab ihm die väterliche Religion das Gefühl der Zugehörigkeit und zugleich das Wissen um deren Exklusivität. Die griechische
heilige Schrift, die Septuaginta, lernte er zu großen Teilen auswendig. In seiner angestammten Religion war er kein Mitläufer,
sondern jemand, dem es ernst war um den Gott, der Israel erwählt und ihm die Gebote zum Leben gegeben hatte. Kein Wunder also,
dass es Paulus früher oder später vom väterlichen Hause weg nach Jerusalem trieb. Hier vollendete sich die Laufbahn des jungen
Eiferers als Pharisäer, und hier wollte er wirken. Eine Gelehrtenlaufbahn schien vorherbestimmt zu sein.
Doch die Dinge kamen anders. Paulus lernte in Damaskus griechischsprachige Juden kennen, die die Messianität eines Gekreuzigten
namens Jesus behaupteten. Und nicht nur dies, sie sprachen das Bekenntnis, Jesus sei von Gott erhöht worden, und verbanden
dies mit einer Kritik am Gesetz. Als ob die Verkündigung des gekreuzigten Jesus als des Messias nicht schon genug |58| wäre! Das war für Paulus zu viel. Der Eifer um das väterliche Gesetz, um Gottes Ehre, trieb ihn zur Tat. Er versuchte, die
neue Bewegung durch Anwendung physischer Gewalt im Keime zu ersticken.
Das Undenkbare geschah: Mitten in einer blutigen Verfolgungsaktion in Damaskus erschien ihm selbst derjenige in himmlischer
Gestalt, dessen Anhängern er nachstellte. Blitzartig wurde ihm klar, was nun zu tun war. Er musste sich in den Dienst Jesu
Christi stellen, denn dieser war wirklich der Sohn Gottes – so dünkte es ihn. So gut wie alles, was seine Anhänger von ihm
gesagt hatten, traf zu. Paulus konnte gar nicht anders, als Anschluss an die von ihm bisher verfolgte Gemeinde zu suchen.
Paulus hatte in seinen bisherigen Studien noch nie etwas von einem leidenden Messias gehört. Da ihm aber die Begegnung mit
dem himmlischen Herrn untrüglich gezeigt hatte, dass dieser kein anderer als der gekreuzigte Jesus sei, fiel dem in der Bibel
beschlagenden Ex-Pharisäer eine Antwort nicht schwer.
In einem kühnen Gedankensprung kombinierte Paulus das jüdische Messiasideal mit dem leidenden Gottesknecht aus dem Jesajabuch.
Das konnte er umso überzeugender, als feststand, dass das Leiden bei Jesus ohnehin nur ein Übergangsstadium vor dem Eingang
in die himmlische Herrlichkeit war. Aber nicht nur für Jesus galt dies, auch für alle anderen Christen. Sie alle sollten vor
dem großen Tag nur noch eine kleine Weile Trübsal erleiden.
Für sich selbst entdeckte Paulus aus der Lektüre der Schrift ebenfalls eine besondere Rolle. Es kamen ihm jene Stellen ins
Gedächtnis, in denen die Propheten Jesaja und Jeremia darüber sprachen, dass Gott sie von Mutterleib an ausgesondert habe.
Das bezog Paulus kurzerhand auf sich selbst (vgl. Gal 1,15–6) und glaubte zu spüren, ebenso wie die beiden großen Propheten
der Vergangenheit, vom
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