Wer war Jesus
Mutterleib an zum Verkündiger berufen worden zu sein – natürlich von Gott selbst. In Paulus baute sich
so ein gewaltiges Selbstbewusstsein auf, welches das aus seiner vorchristlichen Zeit noch übertraf.
|59| Paulus fühlte sich als Agent Gottes und des Herrn Jesus Christus. Zusammen mit diesem war er Teil eines Erlösungsdramas von
kosmischem Ausmaß. Der für Paulus springende Punkt war dabei, dass die Erlösung auch Heiden gelte – nun aber nicht so, dass
sie vorher zu Juden werden müssten, sondern dass sie in gleichem Rang wie die an Christus glaubenden Juden der Kirche Jesu
Christi zugehören sollten. Das war auch innerhalb des Judentums ein neuer Gedanke, der Paulus in einer Mischung aus Sehnsucht,
Erfahrung und Reflexion über die Schrift evident geworden war.
Paulus hatte die Wirklichkeit und die Praxis der Einheit der Kirche aus Juden und Heiden in seiner Anfangszeit fast rauschhaft
erfahren. Er spielt darauf an zwei Stellen an, an denen er die Liturgie anlässlich der Taufe von Konvertiten wiedergibt: »Da
ist weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder männlich noch weiblich, alle seid ihr eins in Christus Jesus«
(Gal 3,28; vgl. ebenso 1Kor 12,13 ohne das Paar »männlich-weiblich«).
Diese im Gottesdienst memorierte neue Wirklichkeit ließ alle Dämme brechen, welche die Thora um Israel herum errichtet hatte.
»Wenn einer in Christus ist, ist er eine neue Schöpfung, das Alte verging: siehe, Neues ist geworden« (2Kor 5,17) – so der
Jubelruf des Paulus. Aber diese Realität konnte erst durch den Sühnetod des Gottessohnes selbst herbeigeführt werden, wie
die Fortsetzung des gerade zitierten Satzes zeigt: »Das alles aber kommt von Gott, der uns mit sich durch Christus versöhnte«
(2Kor 5,18). Die so vollzogene Befreiung ist auch in anderen paulinischen Briefen Gegenstand lobpreisender Rede. Man vergleiche
nur die jubelnde Frage: »Wenn Gott für uns ist, wer ist gegen uns?« (Röm 8,31b) und die sofort gegebene Erläuterung: »Der
sogar seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern ihn für uns alle ausgeliefert hat« (Röm 8,32).
Paulus selbst hat erleben müssen, wie die judenchristliche Kirche das Band mit der heidenchristlichen Kirche zerschnitten
hat. Die von ihm eingesammelte Kollekte wurde in Jerusalem abgelehnt. Die dortigen Christen gingen in ihrer Paulusfeindschaft
so weit, ihn |60| sogar bei der römischen Obrigkeit anzuzeigen. Ein Epheser namens Trophimus sei angeblich von ihm in den Tempel geführt worden.
Der weitere Gang der Ereignisse ist bekannt. Paulus appelliert als römischer Bürger an den Kaiser, gelangt so doch noch zu
seinem Ziel, Rom, wird hier aber unter Nero hingerichtet.
Der jüdische Theologe Paulus war den Heiden ein Heide geworden, den Juden ein Jude und selbst weder Heide noch Jude. Wo sollte
da die Verbindlichkeit liegen? Sein ganzes Auftreten hatte nicht nur einen Schuss von Arroganz, sondern auch eine Biegsamkeit,
die auf geradlinige Geister verwirrend wirken musste.
Wie sein großes Lebenswerk aber belegt, war diese Offenheit nach allen Seiten ein wirksamer Weg zum Erfolg. Nur einmal hatte
er damit Schiffbruch erlitten, in Athen, als er versuchte, eine in Jahrhunderte langen öffentlichen Debatten zu geistiger
Wachheit gereifte Bevölkerung zu beeindrucken. Diese wies – Lukas zufolge – ihn aber in der Gestalt stoischer und epikureischer
Philosophen in seine Grenzen und konnte sich weder mit dem zukünftigen Gericht Christi noch mit dessen körperlicher Auferstehung
anfreunden. Des Paulus auf mystischen Erfahrungen gegründete Religion war der intellektuellen Herausforderung Griechenlands
nicht gewachsen, so sehr er immer wieder als Feigenblatt den rechten Gebrauch der Vernunft anmahnte.
Paulus kannte nicht die Erkenntnis der Wahrheit durch den logisch geschulten Verstand, der alle Begriffe und Anschauungen
streng auf Inhalt und Haltbarkeit prüft, den populären Anschauungen und den Truggebilden der Phantasie unerbittlich zu Leibe
rückt und keine Autorität über sich anerkennt, weder die eines Gottes noch die eines Menschen. An die Stelle der Erkenntnis
tritt bei Paulus der Glaube an die Torheit des Kreuzes.
Die christliche Kirche verdankt diesem jüdischen Mann aus Damaskus fast alles. Er ist der wahre Gründer des Christentums.
Er hat Recht behalten: Er hat mehr als alle gearbeitet und die Grundlagen für alles weitere in der Kirche geschaffen. Dabei
versetzte er die
Weitere Kostenlose Bücher