Wer war Jesus
prophezeit, dass Jesus als Gottesknecht stellvertretend für die Vielen leiden und sterben werde.
Diese These scheitert an Kontext und Inhalt des genannten Textes. Er schließt einen Zyklus von insgesamt vier Gottesknechtsliedern
ab, die sich als relativ selbständige Größe aus dem zweiten Teil des Jesajabuches (Kapitel 40–55) abheben. Ihnen zufolge hat
der Gottesknecht die Aufgabe, die Zerstreuten Israels, die sich seit 587 v. Chr. im babylonischen Exil befinden, aufzurichten,
sie nach Palästina zurückzubringen und einen Kult zu gründen. Zweifellos haben diese Lieder nicht Jesus im Blick, sondern
eine Gestalt aus vorchristlicher Zeit.
b) Das Alte Testament habe im Buch Jesaja, Kapitel 7, Vers 14, die Jungfrauengeburt Jesu geweissagt, wie der Evangelist Matthäus
in der Weihnachtsgeschichte erzählt. Diese Ansicht wird unter anderem dadurch widerlegt, dass die Ankündigung der Geburt eines
Knaben in Jesaja 7 eindeutig ein noch zu Lebzeiten des Königs Ahas (8. Jahrhundert v. Chr.) eintretendes Ereignis im Blick
hat. Außerdem steht im hebräischen Original »junge Frau« (hebr.
almah
), nicht »Jungfrau« (hebr.
bethulah )
. Luther hatte noch die Jungfräulichkeit der Maria damit verteidigen wollen, dass
almah
»Jungfrau« bedeute; er wollte einhundert Gulden dem bezahlen, der den Nachweis führen könnte,
almah
bedeute nicht »Jungfrau«, sondern »junge Frau«. Dieser Nachweis ist inzwischen erbracht; Luther müsste den Betrag bezahlen.
Die Fehlübersetzung bei Matthäus ist dadurch zustande gekommen, dass er den Text der griechischen Übersetzung des Alten Testaments
verwendet, der »Jungfrau« liest, und nicht das hebräische Original, wo »junge Frau« steht. Selbst die letzte Ausgabe der revidierten,
oftmals nachgedruckten Lutherbibel aus dem Jahr 1984 berücksichtigt diese Einsicht zu Jesaja 7, Vers 14 nicht, sondern wiederholt
Luthers Falschübersetzung.
|65| Wenn Aufklärung darin besteht, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, führt das zu dem Schluss: Die kirchlich-christologische
Deutung des Alten Testaments ist, ebenso wie das ptolemäische Weltbild, unwiderruflich und von Grund auf zerstört. Denn aus
den genannten Beispielen geht zwingend hervor, dass frühe Christen die Texte des Alten Testaments gewaltsam und gegen deren
ursprüngliche Absicht auf Christus hin umgebogen haben.
Wer einmal vom Baum der historischen Erkenntnis gegessen hat, vermag eine Interpretation des Alten Testaments auf Christus
hin heute nicht mehr als ernsthafte Möglichkeit anzusehen; er ist aus dem christologischen Tollhaus befreit.
|66| 15. Eifern um Gottes Ehre 1
Die Evangelische Kirche in Deutschland begeht dieses Jahr aufwändig den 500. Geburtstag von Johannes Calvin (1509–1564), dem
bedeutendsten Reformator neben Martin Luther. Dank Calvins Wirksamkeit dehnte sich die Reformation über Deutschland auf weite
Teile Europas aus und behauptete sich danach gegenüber der wieder erstarkenden römischen Kirche.
Calvin gehörte zur zweiten Generation der Reformation. Humanist, promovierter Jurist und klassischer Philologe zugleich, publizierte
er 1532 einen Kommentar zu Senecas Schrift »Über die Sanftmut«. Etwas später schloss er sich der reformatorischen Bewegung
in Frankreich an und war innerhalb kurzer Zeit in der Öffentlichkeit als Protestant bekannt. 1536 erschien die erste Auflage
des katechismusartigen Werkes »Unterricht in der christlichen Religion«, das er als Verteidigung der in Frankreich verfolgten
französischen Protestanten und als Summe der Frömmigkeit – nicht etwa der Theologie – verstand.
In den rasch folgenden Editionen wurde daraus eine grundlegende, eng an der Bibel ausgerichtete Dogmatik. Calvin verfasste
außerdem Kommentare über fast alle Texte der Heiligen Schrift, die – klar und knapp gehalten – streng nach der Absicht der
jeweiligen Autoren fragen. Besonders das Studium seiner Erläuterungen zum Neuen Testament lohnt sich auch heute noch.
Die Berufung Calvins in ein praktisches Amt ließ nicht lange auf sich warten. Als er auf einer Reise im August 1536 in Genf
Station machte, überredete der Pfarrer Guillaume Farel ihn, zu bleiben und der Reformation in dieser Stadt zum Durchbruch
zu verhelfen. Tatsächlich |67| blieb Calvin dann bis zum Ende seines Lebens in Genf, abzüglich einer von 1538 bis 1541 dauernden Verbannung, die er aber
nur als vorübergehenden Stillstand seines amtlichen Dienstes ansah. Er wollte hier
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