Wer war Jesus
die es möglich ist, zu Gott zu gelangen«. Er fährt fort: »Gottes Weizen bin ich, und
durch die Zähne der wilden Tiere werde ich gemahlen, damit ich als reines Brot Christi gefunden werde.« Gleichzeitig warnte
der leidenswütige Bischof die römische Gemeinde davor, ihn durch Loskauf vor dem Martyrium zu bewahren.
Gelegentlicher Protest christlicher Glaubensbrüder und Außenstehender diagnostizierte eine solche Martyriumssehnsucht als
Krankheit. Doch das fruchtete nicht. Offensichtlich ist es ein Axiom |103| religiöser Logik, dass der Märtyrer automatisch seinen Lohn im Himmel bekommt und im Erleiden seiner Todesschmerzen auch Mitchristen
den Weg ins Paradies eröffnet.
Dahinter steckt die Vorstellung eines zunächst zwar mit Widrigkeiten verbundenen, letztlich aber um so profitableren Tauschgeschäfts:
Durch die Hingabe des irdischen Lebens kauft sich der Märtyrer in die himmlische Seligkeit ein.
Diese schauerliche Rechnerei beflügelte nicht nur die altkirchlichen Blutzeugen auf ihrem beschwerlichen Weg zu Gott. Sie
sollte sich vielmehr in späteren Zeiten zusätzlich als ein vorzügliches Mittel erweisen, Politik zu betreiben.
Den Kreuzfahrern im Mittelalter wurde als Anreiz derselbe himmlische Lohn in Aussicht gestellt wie den Söldnern im Dreißigjährigen
Krieg, ganz gleich, für welche Seite sie kämpften. Ja, selbst heute hat dieses Kalkulieren vielerorts seine Zugkraft noch
nicht verloren: Wer für die gerechte Sache Gottes stirbt, dem wird er es schon vergelten.
Im Mittelalter wird das Leiden endgültig Hauptmotiv christlicher Frömmigkeit. Angefangen bei der noch vergleichsweise harmlosen
intellektuellen Passionsmystik des Kreuzzugspredigers Bernhard von Clairvaux kommt es zu unterschiedlichen Ausgestaltungen
des Schmerzes, wie etwa der franziskanischen Leidensmystik, der Frauenmystik, der Betrachtung der Wunden Jesu, der Stigmatisierung
und den praktischen Bußübungen.
Einen besonderen Stellenwert erhält die Frauenmystik, die teils kontemplativ-intellektuell, teils praktisch gelebt, teils
visionär, teils spirituell-erotisch, teils pathologisch-hysterisch in Erscheinung trat. Diese Affinität zum Schmerz im religiösen
Erleben war unter den Frauen mitunter so stark, dass in zahlreichen Frauenklöstern ein Verbot übertriebener Geißelungen ausgesprochen
werden musste.
Eine Betrachtung der Leiden und Schmerzen Christi in ihrer Bedeutung für die christliche Religion wäre unvollständig, wenn
nicht auch der Rolle des Blutes Christi gedacht würde. Erinnert sei an die Bluthymnen (»Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld«,
»O |104| Haupt voll Blut und Wunden«) von Paul Gerhardt (1607–1676), der seinen Glauben allein auf Jesus und sein Blut gründete und
darin viele Nachfolger bis in die heutige Zeit gefunden hat.
Solche Bluttheologie ergeht sich in Übertreibungen des Wertes von Jesu Blut, wenn etwa gesagt wird, ein Tropfen davon wiege
die Sünden der ganzen Welt auf. Hier, aber auch in den anderen christlichen Deutungen des Leidens Christi wird die geschichtliche
Gestalt Jesu von Nazareth überfrachtet mit Theorien, die doch wohl nur dazu dienen, die eigene Angst zu besänftigen und die
persönliche Seligkeit im Himmel sicherzustellen.
Systematisch betrachtet dient Schmerz
als Werkzeug von Religion – wenn ihm im Hinblick auf die theologische Anthropologie eine dem Gesetz vergleichbare Aufgabe
zukommt. Durch den Schmerz erkennt der Mensch seine eigenen Grenzen gegenüber Gott und hat die Möglichkeit zur Umkehr;
der Verherrlichung von Leiden – das wird besonders in der Märtyrerliteratur deutlich. So lässt sich fragen, ob nicht letztlich
die Martyriumsberichte der christlichen Kirche und die klassische Pornographie auf den gleichen psychologischen Grundlagen
fußen. Denn in beiden richten sich Blick und lebhaftes Interesse auf einzelne Körperteile, die ihre Hülle bis auf Haut, Haare
und Fleisch verloren haben, und in beiden werden Schmerz und Lust mit anatomisch-chirurgischer Akribie vorgeführt;
als Anfang und Auslöser von Religion – in der Negation einer als feindlich empfundenen Welt. Diese Wertung kommt dadurch zustande,
dass die Welt als Schein- und Gegenwelt aufgefasst wird, aus der es in die eigentliche Wirklichkeit auszuziehen gilt.
Doch ebenso kann die Erfahrung des Schmerzes zum Ende von Religion führen. Hier greift dann die Dramatik der Theodizee. Durch
die Realität des Schmerzes und des Leides sowie
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