Wer war Jesus
Person christlich verkündigen und wissenschaftlich unterrichten kann. In Predigten über
das Alte Testament wurden uns Abraham und Mose so nahe gebracht, als ob sie jetzt zu uns sprächen, in Vorlesungen über die
Geschichte Israels lernten wir dagegen, dass Abraham historisch gar nicht existiert hat und über Mose wenig mehr als sein
ägyptischer Name bekannt ist. Ähnlich verhielt es sich mit dem Neuen Testament. Beim Ostergottesdienst hieß es aus professoralem
Mund, Jesus wurde von den Toten erweckt und zum Herrn über den Kosmos gemacht, indes lernten wir im Seminar über die Auferstehung
Jesu: Jesus ist, historisch gesehen, gar nicht auferstanden; die Jünger haben ihn vielmehr in einer Vision gesehen. Das Grab
Jesu war gar nicht leer, sondern voll.
Mich bedrückte dieser scharfe Gegensatz zwischen Glauben und Wissenschaft sehr. Hier, in der einstigen Hochburg der deutschen
Aufklärung, war ich nun und wollte wissen, was in der Bibel Fiktion und was Faktum ist, und erfuhr es auch. Doch die Sprengkraft |96| dieses Wissens wurde von den hochgeschätzten Lehrern – so schien es mir – durch den Inhalt ihrer Predigten sofort wieder neutralisiert.
Angesichts einer solch ausweglosen Lage rückte der Abbruch des Theologiestudiums in greifbare Nähe. Ich vollzog ihn aber nicht,
weil das Wissen um den Ursprung des Christentums und um die Entstehungsgeschichte der biblischen Schriften eine Bereicherung,
einen Wert in sich darstellten. Und wo konnte man all das besser lernen als an der Theologischen Fakultät? Außerdem emanzipierte
die historische Kritik von den Dogmen der Kirche, besonders auch davon, dass alle Ungläubigen ewig verdammt seien. »Wer da
glaubet und getauft wird, der wird selig werden, wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden« sagte uns »Jesus« bei der
Kindertaufe jeden Sonntag durch den Mund unseres Pastors; ich habe das hunderte Male gehört und auch geglaubt und war von
diesem Unsinn nun endlich befreit worden. Daher setzte ich das Theologiestudium bewusst fort, wollte aber nicht mehr Pastor
werden und redete mit niemandem über mein Problem. Keiner fragte danach; man konnte auch, ohne dieses Thema anzusprechen,
beruflich als Theologe weiterkommen, damals wie heute.
Dreißig Jahre danach, inzwischen ordentlicher Professor für Neues Testament an meiner Heimatuniversität, wagte ich im März
1998 erstmals, den mich seit dem Theologiestudium bedrängenden Konflikt in allen Einzelheiten zu beschreiben, und bekannte
öffentlich meinen Unglauben. Unter Verweis auf die allseits bekannten Ergebnisse historischer Forschung – die meisten im Neuen
Testament enthaltenen Worte Jesu sind unecht, das Abendmahl ist nicht von ihm eingesetzt worden, die Auferstehung geht auf
eine Vision der Jünger zurück – schrieb ich: Es gebe zwar viele Gründe, Christ zu sein, aber keinen stichhaltigen Grund; niemand
könne angesichts der historischen Haltlosigkeit zentraler biblischer Aussagen noch Christ sein, und auch ich sei keiner mehr.
Diese Aussage eines Theologieprofessors – »ich bin kein Christ« – rief die evangelischen Kirchen in Niedersachsen auf den |97| Plan. Ihre juristischen Vertreter intervenierten unverzüglich beim Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur.
Sie verlangten disziplinarische Maßnahmen und, als dies auf taube Ohren stieß, meine Ausgliederung aus der Theologischen Fakultät.
Zugleich wurde den Angehörigen des habilitierten Lehrkörpers dringend nahe gelegt, sich diesem Begehren anzuschließen. Das
taten sie dann auch prompt. Mehr noch: kein einziges Mitglied des Kollegiums hat mir öffentlich beigestanden, obwohl die meisten
dieselben historischen Einsichten teilten. Das Ergebnis war, dass meine Professur – obwohl an der Theologischen Fakultät verbleibend
– ab Ende 1998 aus den theologischen Studiengängen (einschließlich der Lehrerausbildung) ausgegliedert wurde und dass ich
fortan nicht mehr das Fach »Neues Testament«, sondern das Fach »Geschichte und Literatur des frühen Christentums« in Forschung,
Lehre und Fortbildung vertreten sollte. Das klang nicht schlecht, denn die Texte des Neuen Testaments sind ja Literatur des
frühen Christentums. Die üble Konsequenz der Umbenennung des Lehrstuhls war und ist, dass in dem neuen Fach keine akademischen
Abschlüsse möglich sind und die Professorenstelle nach meinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst im Jahr 2011 nicht wieder besetzt
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