Wer war Jesus
Umfang das als historische Tatsache zu bewerten ist, bleibt umstritten. Das Leiden der Christen unter
der Römerherrschaft wurde in den allermeisten Fällen nur sehnsüchtig herbeiphantasiert. Die Religionspolitik des römischen
Weltreiches war tolerant, und die meisten Quellen der ersten drei Jahrhunderte spiegeln eine ungestörte Entwicklung der christlichen
Kirche wider.
Beispielsweise erlitten, neuesten Schätzungen zufolge, bis zum Anfang des vierten Jahrhunderts, als Kaiser Konstantin die
christliche Religion begünstigte und ihre Erhebung zum Staatskult einleitete, bei einer angenommenen Gesamtzahl von sieben
Millionen Christen weniger als eintausend den Märtyrertod. Das bedeutet: Die Vorstellung, die christliche Kirche sei auf dem
Blut der Märtyrer |101| gegründet, ist ein Mythos, sosehr die in einzelnen Fällen bis zum Tode bewiesene Standhaftigkeit christlicher Männer und Frauen
Eindruck machte.
So oder so, die Bedeutung, die dem Leiden Christi und dem Leiden seiner Kirche in der christlichen Frömmigkeit und Theologie
beigemessen wird, verdient einen Blick, der in die Tiefe gehen muss.
Alljährlich wird das christliche Leiden am Karfreitag sinnfällig. Über diesem Tag liegt eine eingetrübte, unklare Halbmast-Atmosphäre.
Es ist ein Tag in Moll, ein Tag der Trauer. Erst Ostern, zwei Tage später, darf der Gläubige die Trauerkleider ablegen und
fröhlich sein. Dieser Karfreitagsschmerz ist in wörtlichem Sinn in die meisten Kirchen eingebaut.
Dort findet sich am Altar ein Kruzifix, und nicht nur hier, sondern auch in vielen deutschen Gerichtssälen. Das Kruzifix stellt
das Symbol der christlichen Religion dar, und es hat sich trotz einer zunehmenden Entchristlichung in der Bundesrepublik zäh
behauptet – aus Sitte, aber auch, weil die mit ihm verbundene Tradition vom Schmerzensmann Jesus in unserer Kultur tief verwurzelt
ist. Auch einer kirchenfernen Zuhörerschaft wird sie beispielsweise durch die großen Passionsoratorien Johann Sebastian Bachs
jedes Jahr wieder nahe gebracht.
Das Leiden Christi, sein Kreuz, ist im Grunde Teil eines sorgfältig inszenierten himmlischen Schauspiels: Gott gab seinen
Sohn dahin, damit er für die Sünden der Menschen sterbe. Folgerichtig musste dieser Sohn selbst sündlos sein.
Nur so und nicht anders war er überhaupt zu dem Wunder fähig, die unermessliche Sündenlast zu tragen. In einer Vielzahl von
Bildern – Versöhnung, Loskauf, Befreiung und Sühne – beschreibt die christliche Tradition diese Heilsmaschinerie.
Immer liegt ihr dasselbe Phänomen zugrunde: Christus büßt durch seinen Tod für einen vorzeitlichen Sündenfall, den Sündenfall
Adams, um wieder Ordnung und Heil für alle Nachkommen Adams zu schaffen. Der Gottessohn versöhnte Gott und versöhnte damit
die Menschen. Denkt man das zu Ende, so müssten mit dem Leiden des |102| unschuldigen Opferlammes Christus auch Leiden und Schmerz der von ihm Erlösten zum vorzeitigen Ende gekommen sein. Aber diese
Aufhebung des Schmerzes geschieht nur unvollkommen oder nie, denn das Imperfekt des Leidens Christi wirkt durchweg stärker
als das Perfekt der Erlösung durch Christus.
Dies ist kein Wunder, denn der gekreuzigte Gott steht nun einmal im Mittelpunkt des christlichen Glaubens. Das Kreuz wird
zwar allenthalben als wie auch immer zu verstehendes Symbol des Sieges, der Erlösung oder der Überwindung des Todes verstanden.
Da an ihm aber der Leichnam Jesu von Nazareth hängt, bleibt es notwendig die Negation des Lebens und die Affirmation des Leidens.
Die Christen wurden dadurch geradezu angespornt zu fragen: Sind wir vielleicht etwas Besseres als Gott? Sollten wir uns nicht
vielmehr sein Leiden aneignen? Müssen wir nicht ebenso wie Christus notwendigerweise leiden? All dies verlief fast zwangsläufig
so, weil die Ankunft des Reiches Gottes, in dem man den himmlischen Lohn zu empfangen hoffte, sich immer mehr verzögerte.
So hielten sich die frühen Christen lieber gleich an die Leiche auf dem Kreuzesbalken und machten kurzerhand diese Welt in
immer neuen Umschreibungen zum Felde des Leidens. Die meisten Gläubigen sind ihnen darin bis heute gefolgt.
Das Leiden und vorzugsweise das Martyrium galten fortan als Garantien für den Übergang in die himmlische Herrlichkeit. Bischof
Ignatius von Antiochien, der Anfang des zweiten Jahrhunderts als Gefangener nach Rom transportiert wurde, freute sich darauf,
»der wilden Tiere Fraß zu sein, durch
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