Wer war Jesus
werden sollte. Das nennt man Kaltstellung.
Da stand ich nun – zum einen erleichtert, dass der Beamtenstatus einen Rausschmiss verhindert hatte, zum anderen aber auch
betrübt, weil ich akademisch nunmehr völlig isoliert war und die von mir geförderten akademischen Talente sehen mussten, wo
sie mit ihren Projekten unterkamen.
Nun sind sich alle in der Geistes- oder Naturwissenschaft Tätigen einig, dass Forschung frei sein muss und nicht von vornherein
weiß, zu welchen Ergebnissen sie führt. Diese Freiheit der Wissenschaft ist erst nach langen Kämpfen gegen Einsprüche der
christlichen Kirchen errungen worden. Da Theologie bis heute ein Universitätsfach ist, haben die dort Tätigen – so sollte
man eigentlich denken – auch Anrecht auf volle Wissenschaftsfreiheit. Es war daher |98| skandalös, dass in meinem Fall die Niedersächsischen Kirchen den Staat zu einer solch massiven Beschneidung dieser Freiheit
bewegen konnten.
Da es ums Prinzip und letztlich um die Frage geht, ob und wie Theologie eine Wissenschaft sein kann, wählte ich den Weg der
gerichtlichen Klage, wobei mir bewusst war, dass dies ein langer, kostspieliger Weg sein würde und dass – wenn überhaupt –
nur in der höchsten Instanz ein Erfolg möglich sein könnte. Immerhin gibt es in der deutschen Rechtsgeschichte bisher keinen
vergleichbaren Fall, schon gar nicht im evangelischen Bereich; alle Konflikte zwischen Kirche und Theologieprofessoren sind
bisher durch einen Vergleich beigelegt (zum Beispiel der Konflikt um Hans Küng) oder direkt zu Ungunsten des jeweiligen Stelleninhabers
entschieden worden.
Von 1999 bis 2005 ging es durch alle drei Instanzen der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit: vom Verwaltungsgericht Göttingen
zum Oberverwaltungsgericht Lüneburg bis hin zum Bundesverwaltungsgericht Leipzig. Zwar wiesen die ersten beiden Gerichte die
Klage zurück; doch war es immerhin ermutigend, dass jeweils der Gang zur nächst höheren Instanz bis hin zum Bundesverwaltungsgericht
zugelassen wurde.
Meine Hoffnung, dass das höchste Verwaltungsgericht die Zwangsmaßnahmen der Universität Göttingen aufheben würden, trog allerdings.
Selbst die Bundesrichter in Leipzig blieben hart und bestätigten die Maßnahmen meines Arbeitgebers aus dem Jahre 1998, und
zwar mit folgender Begründung: Die Theologische Fakultät der Universität Göttingen sei eine konfessionsgebundene Einrichtung,
sie diene der Ausbildung des theologischen Nachwuchses der evangelischen Kirche wie auch der Vertiefung und Übermittlung von
Glaubenssätzen. Die an ihr tätigen Hochschullehrer übten damit ein konfessionsgebundenes Amt aus. Dafür sei nur geeignet,
wer ein entsprechendes Bekenntnis hat. Die Universität sei verpflichtet, ihren Lehrbetrieb so zu organisieren, dass dieser
den kirchlichen Eignungsanforderungen genüge.
|99| Mit diesem Urteil haben die obersten Verwaltungsrichter den kirchlichen Charakter von Theologie an der Universität festgeschrieben;
anders lässt sich die Aussage nicht verstehen, dass die Hochschullehrer die kirchlichen Glaubenssätze vertiefen sollen. Das
aber heißt zugleich, dass die Theologie den Richtern zufolge keine Wissenschaft und demgemäß ein Fremdkörper an der Universität
ist. Sie weisen nämlich der Kirche in der Gestalt der Theologischen Fakultät einen eigenen Raum mit eigenen Gesetzen auch
innerhalb der Universität zu. Dieser Rechtsbefund erlaubt Theologieprofessoren weiter, zu Lasten der Studierenden in zwei
Sprachen zu reden – auf der Kanzel erbaulich-kirchlich, auf dem Katheder wissenschaftlich – und, eine alte Tradition fortsetzend,
einer doppelten Wahrheit zu huldigen. 2
|100| VERSCHIEDENES
26. Der Schmerzensmann 1
Religionen sind von Menschen gemacht. Deswegen ist es legitim, sie danach zu befragen, auf welche Weise sie grundlegende menschliche
Erfahrungen wie den Schmerz ihrem Glaubensgebilde einverleiben. In der christlichen Religion umkreist eine Vielzahl von Vokabeln
das Phänomen Schmerz: weinen, klagen, Angst oder Furcht empfinden. Auch das Wort Schmerz kommt vor. Zentraler Terminus ist
jedoch ein anderer Ausdruck: das Leiden. Er bezieht sich sowohl auf Jesus, der am Kreuz gelitten hat, als auch auf seine Nachfolger,
die sich im Leiden befinden. Wie die ältesten Dokumente des Neuen Testaments zeigen, die Briefe des Apostels Paulus, wurde
den Christen offenbar von Anfang an das Leiden vorausgesagt.
Inwieweit und in welchem
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