Wer weiter sehen will, braucht hoehere Schuhe
er die Leere zu füllen hat, und spürt, wie lange eine Pause sein muss. Genau darin liegt das Geheimnis seiner Macht.
Das wahre Wunder der Kommunikation des Singens ist die Frage, warum wir eine Menge weglassen, in einer fremden Sprache singen, keine Ahnung von einem bestimmten Thema haben und doch zutiefst berührt sind? Beispielsweise kann man einer Gruppe Franzosen ein irisches Lied vorsingen, in dem ein Mädchen in einen Pub geht und ihren Geliebten dasselbe Gesäusel, das er ihr tags zuvor ins Ohr geflüstert hat, dem Mädchen auf seinem Knie zuraunen hören, und alle im Raum wissen genau, wie sie sich fühlt, obwohl vielleicht keinem von ihnen jemals etwas Derartiges widerfahren ist. Ein guter Sänger kontrolliert seine Zuhörer, indem er nicht nur an sich selbst denkt, sondern daran, was in den Köpfen und Herzen seines Publikums vorgeht. Es reicht nicht, die Menschen zu unterhalten, sondern wie in der Kunst der Liebe gehören immer zwei dazu: derjenige, der gibt, und derjenige, der nimmt. Der eine ist nichts ohne den anderen. Ein Liveauftritt wird erst zum unvergesslichen Erlebnis, wenn das Publikum bereit ist, etwas von sich zu geben. Es muss aufmerksam sein und bereit, sich vom Künstler auf der Bühne verführen zu lassen.
Früh übt sich
Durch eine glückliche Fügung des Schicksals bin ich die Einzige in einer ansonsten völlig unmusikalischen Familie, der Musikalität in die Wiege gelegt wurde. Als Baby habe ich stundenlang in meinem Bettchen vor mich hin gesungen, habe meinen Puppen Lieder vorgetragen, in der Kirche mitgesummt, mich vor Freunden und Verwandten auf dem Klavier und mit dem Kassettenrecorder begleitet und am Pool gesungen und getanzt, wobei ich bei mindestens zwei meiner »Auftritte« ins Wasser fiel. Musik machte mein Herz frei und brachte Harmonie in mein kleines Leben. Sie schenkte mir eine Ekstase, in die ich mich jederzeit aus den Wirren und dem Unglück eines Mädchenlebens flüchten konnte. Mit acht bekam ich Klavierunterricht im Musikzimmer des Holy Cross Convent. Dieser wunderbare Raum war Teil des Konvents, in dem die Nonnen lebten, und gehörte eigentlich nicht zur Schule. Er war auf Hochglanz poliert, ruhig, mit Blumen geschmückt und einem wunderschönen Klavier ausgestattet, und es schien, als wehe stets eine nach frischer Meeresluft duftende Brise durchs Fenster. Wie die meisten Kinder nahm ich an Musik- und Gesangswettbewerben teil, die nervenzerfetzendste Erfindung der Kirche nach dem Fasten. Meine irischen Freunde sangen leidenschaftlich gern und brachten mir all die Schmachtfetzen wie »The Black Velvet Band«, »I’ll Take You Home Again Kathleen« oder »If You Ever Go Across The Sea To Ireland« bei. Je trauriger, umso besser. Wenn ich sie alle zu Tränen rührte, war dies der Beweis für meinen Erfolg. Manchmal konnte nicht einmal ich die Tränen zurückhalten. Ich stand auf, wann immer man mich darum bat – ganz das brave Mädchen mit meinem langen schwarzen Haar, das ich mit einem grünen Band zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und leuchtenden haselnussbraunen Augen. Niemand schien meine potthässlichen Knöchel und meine Sommersprossen zu bemerken. So wurde ich regelrecht süchtig nach öffentlichen Auftritten, und genau auf diesen Vorstadtbühnen wurde der Grundstein für meine spätere Laufbahn als Fernsehmoderatorin gelegt. Man sollte die Talente, die einem von Geburt an mit auf den Weg gegeben werden, niemals unterschätzen; sie sind alles, was man hat.
Später, auf dem St. Mary’s College, war die Musikschule ein weiteres Mal der schönste Teil der Anlage: ein separates Gebäude auf dem Campus und eine Oase der Kultiviertheit, der Ordnung und des Glücks. Ich hielt mich mit Begeisterung dort auf, weil es sich anfühlte, als würde man erst dort wirklich zum Menschen werden. Die Nonnen servierten Tee und Kekse, und man lernte berühmte Opernsängerinnen und andere außergewöhnliche Menschen kennen. Jeder in Neuseeland mit einem Fünkchen Talent hat Unterricht bei Schwester Mary Leo genossen, und sie alle kehrten zurück, eingehüllt in eine Wolke aus Chanel No.5: Mina Foley, Kiri Te Kanawa, Malvina Major. Im Gegensatz zum Klassenzimmer lernte man dort tatsächlich etwas und machte Fortschritte. Böse Zungen behaupteten, Schwester Leo sei eine Zuchtmeisterin, wie sie im Buche stand, doch ich konnte den Vorwurf nicht recht nachvollziehen. Ich war inmitten von strengen und unnachgiebigen Frauen groß geworden, so dass mir ihr Verhalten nicht
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