Wer weiter sehen will, braucht hoehere Schuhe
Elemente wie Takt, Notenschlüssel, Melodie und Harmonien. Singen ist eine ungewöhnliche und potenziell einseitige Form der Kommunikation, weil der Interpret seinen Song (idealerweise) ohne Unterbrechung vorträgt, was bei einer Unterhaltung ja nicht der Fall ist. Ein Lied zu singen ist wie ein Besuch beim Therapeuten; es ist die einzige Gelegenheit, sich Gehör zu verschaffen, ohne dabei unterbrochen zu werden. Die Songs berühmter Interpreten sind nicht jedermanns Sache, manche Menschen empfinden sie sogar als unerträglich. Sie können einen höchst unangenehmen emotionalen Zustand heraufbeschwören, deprimieren oder verärgern, oder aber der Zuhörer sträubt sich dagegen, in den jeweiligen Gemütszustand versetzt zu werden.
Ob man einen Song als ansprechend empfindet oder nicht, hängt davon ab, was jeder Zuhörer für sich aus ihm herausholt, und davon, was alle Welt hören kann. Musik versetzt uns in einer Art und Weise spontan in einen Gemütszustand, wie es keine andere Kommunikationsform vermag, und das Erstaunliche ist, dass wir einen Song wieder und wieder anhören können, ohne seiner überdrüssig zu werden. So etwas ist bei einer Unterhaltung unmöglich. Würden wir ständig wiederholen, was wir zu sagen haben, fiele unser Gegenüber vor Langeweile vom Stuhl. Für die Ärzte, die festgestellt haben, dass manche Künstler während eines Auftritts an Gewicht verlieren, ist es bestimmt auch interessant zu erfahren, dass anhand des Blutdrucks und der elektrischen Leitfähigkeit der Haut nachgewiesen werden konnte, dass Musik körperlichen Einfluss auf die Menschen hat und sich ein und derselbe Song unterschiedlich auf die Zuhörer auswirken kann.
Um das Thema Musik ranken sich zahlreiche Geheimnisse. So kommunizieren Dirigenten nicht nur, indem sie die Melodie mitsummen, sondern gestikulieren, grollen, heulen und weinen. Kinder, die unter dem Williams-Syndrom leiden, können wunderschön singen oder mehrere tausend Stücke spielen, sind jedoch nicht in der Lage, sich allein die Schuhe zuzubinden oder zwei und drei zusammenzuzählen. Wieso treffen manche Menschen so perfekt jeden Ton? Manche Menschen können auf Anhieb ein hohes C anstimmen, wenn man sie darum bittet. Es existiert sogar eine bestimmte Form von Synästhesie (eine Art miteinander verbundene Gehirnwellen), bei der ein Mensch Worte auf der Zunge schmecken kann, noch viel faszinierender jedoch ist die Form, bei der Menschen Worte als Musik wahrnehmen. Es ist ein überwältigendes Gefühl für sie, und üblicherweise ziehen sich diese Menschen sehr stark aus der Öffentlichkeit zurück, um ein wenig Frieden vor all den Sinneseindrücken zu haben. Bemerkenswerterweise leidet ausgerechnet ein englischer Musiker unter einer bestimmten Form schwerer Amnesie, dessen Aufmerksamkeitsspanne sich lediglich über ein paar Sekunden erstreckt. Er weiß, dass er darunter leidet, und trägt ein Notizbuch mit sich herum, in das er immer nur denselben Satz einträgt – ich bin wach . Trotz dieses unsäglichen Zustands kann er seine Frau lieben und Musik machen. Er kann vom Notenblatt spielen, seine Orgel bedienen und dirigieren – ein Beweis für die Fragilität und Komplexität des menschlichen Gehirns.
Die Beziehung zwischen Sänger, Komponist und Publikum ist sehr komplex, ohne dass es uns bewusst ist. Kommunikation ist eine sehr vielschichtige Angelegenheit, und oft ist nicht der Knackpunkt, was wir sagen, sondern wie wir es sagen. Victor Hugo hat den kürzesten Brief der Welt an seinen Verleger geschrieben: »?« Dieses Fragezeichen stand für: Wie läuft mein Buch, verkauft es sich und verkauft es sich auch gut? So viele Gedanken, Gefühle, vielleicht auch Gespräche oder Kritzeleien waren vorausgegangen, ehe er sein Anliegen in nur einem einzigen Satzzeichen zusammenfasste. Sein Verleger verstand die Frage und zögerte nicht mit der Antwort: »!« Das verriet Hugo alles, was er über Les Misérables zu wissen brauchte. Man stelle sich nur vor, wie ein Song mit dem Titel ».« klingen würde – nichts als eine Zen-Landschaft an Information, reduziert auf die Schönheit der Stille. Manchmal kann gerade das, was fehlt, besonders berühren. Der Sänger Jaques Brel war ein echter Experte für Pausen und beherrschte es meisterhaft, das letzte auf der Hand liegende Wort einfach wegzulassen oder eine Silbe übertrieben in die Länge zu ziehen. Der wahre Künstler unterscheidet sich von dem, der nur den Mund auf- und zumacht, indem er instinktiv weiß, wie
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