Wer Wind sät
Mund.
*
Die ganze Nacht hatte er kein Auge zugemacht. Mark war und blieb verschwunden. Seine Frau und er waren alle Orte abgefahren, an denen der Junge sich aufhalten konnte, hatten immer wieder versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen.
Stefan Theissen stand am Fenster seines Büros und blickte über die Rasenflächen und die Felder zur Frankfurter Skyline, die im dunstigen Licht des Maimorgens zum Greifen nah schien.
Sie hatten Marks Lehrer und Klassenkameraden abtelefoniert und erfahren, dass die Freunde, von denen Mark erzählte, überhaupt nicht existierten. Es gab keine Kumpels, mit denen er FuÃball spielte, ins Kino ging oder einfach nur herumhing, wie das Sechzehnjährige so taten. Zuerst hatten sie sich gegenseitig mit Schuldzuweisungen überhäuft, sich angeschrien und schlieÃlich gar nichts mehr gesagt, denn es hatte nichts mehr zu sagen gegeben. Mark hatte vor ihren Augen ein nahezu perfektes Doppelleben geführt, sie beide hatten als Eltern vollkommen versagt, denn sie hatten sich aus reiner Bequemlichkeit mit den Lügen abspeisen lassen, weil ihnen alles andere wichtiger gewesen war als ihr eigener Sohn. Keiner von ihnen beiden hatte je begriffen, wie verhängnisvoll eng Marks Freundschaft mit dieser Ricky und ihrem Freund geworden war.
Selbst als sich seit ein paar Wochen die Zeichen gemehrt hatten, dass mit Mark etwas nicht stimmte, hatten sie es bei ein paar oberflächlichen Gesprächen belassen, anstatt ernsthaft nachzuforschen, weshalb der Junge ständig unter Kopfschmerzen litt und die Schule schwänzte. Ein fataler Fehler, gerade vor dem Hintergrund dessen, was Mark bereits durchgemacht hatte. Dafür gab es keine Entschuldigung.
Ein Klopfen an der Tür riss Theissen aus seinen Gedanken. Er wandte sich vom Fenster ab. Seine Sekretärin trat ein.
»Graf von Bodenstein ist hier«, sagte sie. Theissen brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dann nickte er. Er knipste ein Lächeln an, nach dem ihm nicht zumute war. Der Vorvertrag lag auf dem Besprechungstisch bereit, die Unterzeichnung war reine Formsache. Bald stünde dem Bau des Windparks und der damit verbundenen finanziellen Sanierung der WindPro nichts mehr im Wege. Dann hatte er Zeit für Mark. Er würde alles wiedergutmachen. Irgendwie.
Graf Heinrich von Bodenstein übersah Theissens ausgestreckte Hand.
»Herr Theissen, ich mache es kurz«, sagte er steif. »Das, was Sie und Ihre Handlanger getan haben, war ausgesprochen niederträchtig. Sie haben die Familie meines Freundes Ludwig mit Ihrem unmoralischen Angebot entzweit und nun auch noch Zwietracht in meiner eigenen Familie gesät. Sie haben mit Ihren Drohungen Angst und Schrecken verbreitet. Deshalb haben meine Familie und ich beschlossen, diese unselige Wiese anderweitig zu verkaufen.«
Theissen blickte den alten Mann an und hörte auf zu lächeln.
»Ich kann Ihnen die Wiese nicht geben«, fuhr Graf Bodenstein fort. »Nicht für zwei und nicht für drei Millionen. Mein Freund Ludwig wollte, dass das Tal und der Wald unberührte Natur bleiben, und ich respektiere seinen Wunsch. Alles andere könnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Es tut mir leid.«
Stefan Theissen nickte und stieà einen tiefen Seufzer aus. Das war das endgültige Aus. Es würde keinen Windpark Taunus geben. Und es war ihm plötzlich vollkommen egal. Er war nur noch müde, entsetzlich müde. Sein eigenes moralisches Empfinden hatte er vor langer Zeit dem Streben nach Profit und Anerkennung geopfert, hatte sich rücksichtslos legaler und illegaler Mittel bedient, um seine Ziele zu erreichen, und jetzt scheiterte er an diesem alten Mann in seinem schäbigen Tweedjackett, dem ein reines Gewissen mehr wert war als drei Millionen Euro.
Theissen wartete, bis Graf Bodenstein sein Büro verlassen hatte, dann trat er an das Sideboard und ergriff das Foto, das Mark zeigte, als noch alles in Ordnung gewesen war. Ein kleiner, blonder Junge, sensibler und ernsthafter als seine beiden älteren Schwestern. Ein Junge, verzweifelt auf der Suche nach Liebe und Zuneigung, die er in seiner Familie nicht gefunden und deshalb bei fremden Menschen gesucht hatte. Bei den falschen Menschen. Was, wenn Mark wirklich mit dem Mord an Ludwig Hirtreiter zu tun hatte? Wenn es so war, dann trug er die Schuld daran, denn er hatte nicht gut genug auf seinen Sohn aufgepasst.
*
Eine ganze Weile stand er reglos in der Diele
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