Wer Wind sät
des Hauses, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hörte nur seine eigenen Atemzüge, hin und wieder brummte das Aggregat des Kühlschranks in der Küche. Die gepackten Koffer, die verschwundenen Hundekörbe, die leeren Schränke, die blauen Müllsäcke neben der Haustür â hatte Ricky ihn angelogen? Wollte sie ihn verlassen? Die Frage nach dem Warum drängte sich unerbittlich in seinen Kopf. Was war mit dem Tierparadies und mit Jannis? Wer würde sich um die Hasen, die Meerschweinchen, die Hunde und die Katzen kümmern, an denen sie so hing? Nein, er musste sich einfach irren. Mark holte tief Luft, kämpfte die aufsteigende Ãbelkeit nieder. Er ging zurück ins Schlafzimmer, zog entschlossen einen der Koffer zu sich heran und lieà die Schlösser aufschnappen. Er brauchte Gewissheit.
In den ersten beiden Koffern waren nur Kleider, aber im dritten fand er Rickys Laptop. Er überwand seine Skrupel, zog ihn aus der Schutzhülle und klappte ihn auf. Rickys Passwort war ähnlich simpel wie das seiner Mutter, sie hatte es ihm irgendwann einmal gesagt und danach nicht mehr geändert. Mark saà im dämmerigen Schlafzimmer auf dem FuÃboden, den Laptop auf dem SchoÃ, und rief Rickys E-Mails auf. Eine der ersten Nachrichten stammte von Rosi.
Klar mache ich das, hatte sie geschrieben. Bring die Fellnasen einfach vorbei, dann kümmere ich mich um sie. Ist einfacher, als wenn ich immer zu dir fahren muss . Die Fellnasen! Was für eine bescheuerte Bezeichnung. Typisch Rosi! Mark scrollte weiter nach unten und las Rickys E-Mail, auf die Rosi geantwortet hatte. Liebe Rosi, ich muss für ein paar Tage verreisen. Jannis ist ja im Krankenhaus. Könntest du dich in der Zeit wohl um meine Tiere kümmern? Die Pferde fahr ich morgen früh weg, aber für die anderen finde ich auf die Schnelle nichts. Das wäre echt supernett.
Er begriff nichts. Wieso bat sie Rosi um diese Gefälligkeit und nicht ihn? Er hatte schlieÃlich schon oft ihre Tiere gefüttert und die Käfige saubergemacht. Und warum hatte sie die Pferde weggebracht? Für die paar Tage bei ihren Eltern? Mark starrte auf den Bildschirm.
Ganz klar, sagte er sich, Ricky wollte ihm die Verantwortung für die Tiere nicht aufbürden. Er war immerhin erst sechzehn und musste noch zur Schule gehen. Sie war rücksichtsvoll und wollte nur sein Bestes. Vielleicht war sie auch nur ein wenig durcheinander, ihr Vater lag im Sterben, das war eine Ausnahmesituation. Und dann noch das mit Jannis und Nikas Verschwinden.
Unbewusst suchte sein Gehirn nach einer zufriedenstellenden Erklärung, einer Rechtfertigung, wie immer, wenn Ricky etwas tat, was seinem Bild von ihr widersprach. Nein, sie würde ihn niemals einfach verlassen, ohne ihm das zu sagen.
Mark ging weiter die E-Mails durch. Plötzlich erstarrte er. Eine Nachricht von Billigfluege.de mit der Betreffzeile »Ihre Flugbuchung«.
Er klickte auf die Nachricht und las sie. Einmal. Ein zweites Mal. Das Begreifen war entsetzlich. Wie so oft in seinem Leben, wenn etwas wirklich Schlimmes geschah, traf es ihn völlig unvorbereitet. Er empfand keinen Zorn, nur abgrundtiefe, alles zermalmende Enttäuschung.
Bei Berlin, 31. Dezember 2008
Der Morgen dämmerte, als sie ihr Auto auf einen Waldparkplatz lenkte und den Motor abstellte. Sie schloss die Augen und presste ihre glühendheiÃe Stirn gegen das Lenkrad. Cieran war tot! Und sie hatte nackt, blutbeschmiert und mit einem Messer in der Hand auf dem Bett gelegen! Hatte sie ihn umgebracht? Aber weshalb hätte sie das tun sollen? Was hatte Cieran überhaupt in Berlin gemacht?
Sie zwang ihre Gedanken zur Ruhe, versuchte, tief und gleichmäÃig zu atmen. Heute war Silvester, das hatten sie eben im Radio gesagt. Ihr fehlten also volle sechs Tage in ihrer Erinnerung. Dirk hatte ihr ein Champagnerglas gereicht, sie hatten angestoÃen, getrunken. Frohe Weihnachten! Dann war ihr schlecht geworden, und Dirk hatte telefoniert. »Sie hat mich angegriffen«, hatte er gesagt, aber das stimmte doch nicht. Was war passiert?
»Verdammt«, murmelte sie. »Erinnere dich, Annika!«
Zwei Leute vom Sicherheitsdienst des Instituts waren gekommen. Grelles Licht, Wärme. Ein Stich in ihrer Armbeuge. Sie richtete sich auf, schob den Ãrmel ihrer Jacke hoch und betrachtete im fahlen Licht des frühen Morgens den Bluterguss, der sich über ihren rechten Unterarm zog.
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