Wer Wind sät
Tasche seines Bademantels gesteckt hatte, kletterte mühsam aus dem Taxi und stemmte sich auf die Krücken. Nach Marks eigenartigem Anruf hatte er vergeblich versucht, Ricky zu erreichen, bis das Guthaben auf seiner Telefonkarte aufgebraucht war.
Der Gedanke, dass im Haus eingebrochen und sein Arbeitszimmer komplett ausgeräumt worden war, hatte ihm keine Ruhe mehr gelassen. Ohne sich im Krankenhaus abzumelden, war er in Schlafanzug, Schlappen und Bademantel nach unten gehinkt und hatte sich ein Taxi genommen. Schlimm genug, dass Eisenhuts Schläger sein Portemonnaie, seinen Schlüsselbund und sein Handy mitgenommen hatten; wenn es stimmte, was Mark sagte, war alles weg, was er besaÃ. Der Weg vom Taxi bis zur Haustür überstieg beinahe schon seine Kräfte, Jannis war nass geschwitzt, als er auf die Klingel drückte. Warum waren die Rollläden heruntergelassen? Er klingelte ungeduldig ein zweites Mal, und endlich ging die Tür auf.
»Was ist hier los?«, fragte er Mark und schleppte sich an ihm vorbei. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an das dämmerige Zwielicht im Innern des Hauses gewöhnt hatten. In der Diele erwartete ihn ein heilloses Durcheinander: aufgerissene Müllsäcke, Kleider, geschredderte Papierberge. Er blickte sich verständnislos um.
»Wo ist Ricky?«, wollte er wissen. »Was machst du eigentlich hier?«
Mark antwortete nicht. Er stand mit verschränkten Armen da, reglos, mit seltsam leerer Miene. Jannis war es herzlich egal, was mit Mark los war, sein Arbeitszimmer interessierte ihn viel mehr. Die schmale Wendeltreppe stellte ein beinahe unüberwindbares Hindernis dar, aber er kämpfte sich Stufe um Stufe hoch. Er hatte ein ähnliches Chaos erwartet wie unten; die völlige Leere versetzte ihm einen Schock. Das war ein Alptraum. Fassungslos starrte er auf die leeren Regale, den nackten Schreibtisch, sein Gehirn wollte nicht begreifen, was seine Augen sahen. Der Rückweg war noch beschwerlicher als der Weg nach oben, doch er konnte den Anblick einfach nicht mehr ertragen. Schwer atmend saà er schlieÃlich auf der untersten Treppenstufe. Mark hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
»Wann ist das passiert?« Jannis fuhr sich erschöpft mit der Hand über das schweiÃnasse Gesicht.
»Am Samstag schon«, erwiderte Mark. »Ricky wollte es dir nicht sagen. So, wie sie dir auch nicht gesagt hat, dass sie mit mir geschlafen hat.«
Jannisâ Kopf zuckte hoch.
»Wie bitte?«
»Sie hat dir wahrscheinlich auch nicht gesagt, dass sie heute nach Amerika fliegt und den Mietvertrag für das Haus und den Laden gekündigt hat, oder?«
Jannis starrte den Jungen an. Hatte der jetzt komplett den Verstand verloren? Mark kickte mit der FuÃspitze gegen einen der aufgerissenen blauen Müllsäcke.
»Ich habe das alles auch nur zufällig entdeckt«, fuhr er fort. »Genauso wie das hier.«
Er griff an seinen Hosenbund. Im nächsten Moment blickte Jannis in den Lauf einer Pistole, die ziemlich echt aussah.
»Spinnst du?« Er versuchte aufzustehen. »Tu das Ding weg!«
»Bleib sitzen«, erwiderte Mark. »Sonst schieà ich dir ins Bein.«
Ganz ruhig sagte er das. Bedrohlich ruhig. Jannis musste schlucken. Der emotionslose Ausdruck in Marks Augen jagte ihm Angst ein. Todesangst.
»Was ⦠was willst du?«, flüsterte er heiser.
»Wir warten hier auf Ricky«, erwiderte Mark. »Und dann will ich von euch wissen, warum ihr mich immer angelogen habt.«
*
Es gab einen Fahndungserfolg zu verzeichnen. Ralph Glöckner schien nicht zu ahnen, dass die Polizei nach ihm suchte, und war nach der Rückkehr aus dem Wochenende arglos im Goldenen Löwen aufgetaucht, um für die Woche einzuchecken.
»Der Wirt hat die Kollegen in Kelkheim informiert, und die haben zwei Streifenwagen geschickt«, berichtete Cem, während er neben Pia die Treppe hinunterging. »Er sitzt schon in Vernehmungsraum 1 .«
»Wenigstens eine gute Nachricht heute«, knurrte Pia.
Glöckner war so ziemlich ihre allerletzte Hoffnung, nachdem alle anderen Verdächtigen nach und nach ausgefallen waren. Der Fall verfolgte sie seit Tagen bis in den Schlaf, erst letzte Nacht hatte sie geträumt, Bodensteins Vater habe Hirtreiter erschossen und danach Annika Sommerfeld.
Ralph Glöckner erhob sich von seinem Stuhl, als Cem und Pia den Vernehmungsraum betraten.
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