Werke
ermorden, kömmt: sondern dieses, daß sie zum zweitenmale durch einen glücklichen ungefähren Zufall daran verhindert wird. Ich würde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den Gründen der größern Wahrscheinlichkeit sich bestimmen ließe; denn die Leidenschaft, in der sie ist, könnte auch den Gründen der schwächern das Übergewicht erteilen. Aber das kann ich ihm nicht verzeihen, daß er sich so viel Freiheit mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunderbaren desselben so verschwenderisch ist, als mit den gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten. Daß der Zufall einmal der Mutter einen so frommen Dienst erweiset, das kann sein; wir wollen es um so viel lieber glauben, je mehr uns die Überraschung gefällt. Aber daß er zum zweitenmale die nämliche Übereilung, auf die nämliche Weise, verhindern werde, das sieht dem Zufalle nicht ähnlich; eben dieselbe Überraschung wiederholt, hört auf Überraschung zu sein; ihre Einförmigkeit beleidiget, und wir ärgern uns über den Dichter, der zwar eben so abenteurlich, aber nicht eben so mannichfaltig zu sein weiß, als der Zufall.
Von den augenscheinlichen und vorsetzlichen Verfälschungen des Lindelle, will ich nur zwei anführen. – »Der vierte Akt, sagt er, fängt mit einer kalten und unnötigen Szene zwischen dem Tyrannen und der Vertrauten der Merope an; hierauf begegnet diese Vertraute, ich weiß selbst nicht wie, dem jungen Aegisth, und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeschlafen wäre, ihn die Königin mit aller Gemächlichkeit umbringen könne. Er schläft auch wirklich ein, so wie er es versprochen hat. O schön! und die Königin kömmt zum zweitenmale, mit einer Axt in der Hand, um den jungen Menschen umzubringen, der ausdrücklich deswegen schläft. Diese nämliche Situation, zweimal wiederholt, verrät die äußerste Unfruchtbarkeit; und dieser Schlaf des jungen Menschen ist so lächerlich, daß in der Welt nichts lächerlicher sein kann.« Aber ist es denn auch wahr, daß ihn die Vertraute zu diesem Schlafe beredet? Das lügt Lindelle. (34) Aegisth trifft die Vertraute und bittet sie, ihm doch die Ursache zu entdecken, warum die Königin so ergrimmt auf ihn sei. Die Vertraute antwortet, sie wolle ihm gern alles sagen; aber ein wichtiges Geschäfte rufe sie itzt wo anders hin; er solle einen Augenblick hier verziehen; sie wolle gleich wieder bei ihm sein. Allerdings hat die Vertraute die Absicht, ihn der Königin in die Hände zu liefern; sie beredet ihn zu bleiben, aber nicht zu schlafen: und Aegisth, welcher, seinem Versprechen nach, bleibet, schläft, nicht seinem Versprechen nach, sondern schläft, weil er müde ist, weil es Nacht ist, weil er nicht siehet, wo er die Nacht sonst werde zubringen können, als hier. (35) – Die zweite Lüge des Lindelle ist von eben dem Schlage. »Merope, sagt er, nachdem sie der alte Polydor an der Ermordung ihres Sohnes verhindert, fragt ihn, was für eine Belohnung er dafür verlange; und der alte Narr bittet sie, ihn zu verjüngen.« Bittet sie, ihn zu verjüngen? »Die Belohnung meines Dienstes, antwortet der Alte, ist dieser Dienst selbst; ist dieses, daß ich dich vergnügt sehe. Was könntest du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich verlange nichts. Eines möchte ich mir wünschen; aber das stehet weder in deiner, noch in irgend eines Sterblichen Gewalt, mir zu gewähren; daß mir die Last meiner Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert würde, u.s.w.« (36) Heißt das: erleichtere Du mir diese Last? gib Du mir Stärke und Jugend wieder? Ich will gar nicht sagen, daß eine solche Klage über die Ungemächlichkeiten des Alters hier an dem schicklichsten Orte stehe, ob sie schon vollkommen in dem Charakter des Polydors ist. Aber ist denn jede Unschicklichkeit, Wahnwitz? Und mußten nicht Polydor und sein Dichter, im eigentlichsten Verstande wahnwitzig sein, wenn dieser jenem die Bitte wirklich in den Mund legte, die Lindelle ihnen anlügt. – Anlügt! Lügen! Verdienen solche Kleinigkeiten wohl so harte Worte? – Kleinigkeiten? Was dem Lindelle wichtig genug war, darum zu lügen, soll das einem dritten nicht wichtig genug sein, ihm zu sagen, daß er gelogen hat? –
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Vier und vierzigstes Stück
Den 29sten September, 1767
Ich komme auf den Tadel des Lindelle, welcher den Voltaire so gut als den Maffei trifft, dem er doch nur allein zugedacht war.
Ich übergehe die beiden Punkte, bei welchen es Voltaire selbst fühlte, daß
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