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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gotthold Ephraim Lessing
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Mitleid. Denn wo blieb ich, ich der große Corneille, sonst mit meinem Rodrigue und meiner Chimene? Die guten Kinder erwecken Mitleid; und sehr großes Mitleid: aber Furcht wohl schwerlich. Und wiederum: wo blieb ich sonst mit meiner Cleopatra, mit meinem Prusias, mit meinem Phocas? Wer kann Mitleid mit diesen Nichtswürdigen haben? Aber Furcht erregen sie doch. – So glaubte Corneille: und die Franzosen glaubten es ihm nach.
    2. Aristoteles sagt: die Tragödie soll Mitleid und Furcht erregen; beides, versteht sich, durch eine und eben dieselbe Person. – Corneille sagt: wenn es sich so trifft, recht gut. Aber absolut notwendig ist es eben nicht; und man kann sich gar wohl auch verschiedener Personen bedienen, diese zwei Empfindungen hervorzubringen: so wie ich in meiner Rodogune getan habe. – Das hat Corneille getan: und die Franzosen tun es ihm nach.
    3. Aristoteles sagt: durch das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie erweckt, soll unser Mitleid und unsere Furcht, und was diesen anhängig, gereiniget werden. – Corneille weiß davon gar nichts, und bildet sich ein, Aristoteles habe sagen wollen: die Tragödie erwecke unser Mitleid, um unsere Furcht zu erwecken, um durch diese Furcht die Leidenschaften in uns zu reinigen, durch die sich der bemitleidete Gegenstand sein Unglück zugezogen. Ich will von dem Werte dieser Absicht nicht sprechen: genug, daß es nicht die aristotelische ist; und daß, da Corneille seinen Tragödien eine ganz andere Absicht gab, auch notwendig seine Tragödien selbst ganz andere Werke werden mußten, als die waren, von welchen Aristoteles seine Absicht abstrahiert hatte; es mußten Tragödien werden, welches keine wahre Tragödien waren. Und das sind nicht allein seine, sondern alle französische Tragödien geworden; weil ihre Verfasser alle, nicht die Absicht des Aristoteles, sondern die Absicht des Corneille, sich vorsetzten. Ich habe schon gesagt, daß Dacier beide Absichten wollte verbunden wissen: aber auch durch diese bloße Verbindung, wird die erstere geschwächt, und die Tragödie muß unter ihrer höchsten Wirkung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich gezeigt, von der erstern nur einen sehr unvollständigen Begriff, und es war kein Wunder, wenn er sich daher einbildete, daß die französischen Tragödien seiner Zeit, noch eher die erste, als die zweite Absicht erreichten. »Unsere Tragödie, sagt er, ist, zu Folge jener, noch so ziemlich glücklich, Mitleid und Furcht zu erwecken und zu reinigen. Aber diese gelingt ihr nur sehr selten, die doch gleichwohl die wichtigere ist, und sie reiniget die übrigen Leidenschaften nur sehr wenig, oder, da sie gemeiniglich nichts als Liebesintriguen enthält, wenn sie ja eine davon reinigte, so würde es einzig und allein die Liebe sein, woraus denn klar erhellet, daß ihr Nutzen nur sehr klein ist.« (131) Gerade umgekehrt! Es gibt noch eher französische Tragödien, welche der zweiten, als welche der ersten Absicht ein Genüge leisten. Ich kenne verschiedene französische Stücke, welche die unglücklichen Folgen irgend einer Leidenschaft recht wohl ins Licht setzen; aus denen man viele gute Lehren, diese Leidenschaft betreffend, ziehen kann: aber ich kenne keines, welches mein Mitleid in dem Grade erregte, in welchem die Tragödie es erregen sollte, in welchem ich, aus verschiedenen griechischen und englischen Stücken gewiß weiß, daß sie es erregen kann. Verschiedene französische Tragödien sind sehr feine, sehr unterrichtende Werke, die ich alles Lobes wert halte: nur, daß es keine Tragödien sind. Die Verfasser derselben konnten nicht anders, als sehr gute Köpfe sein; sie verdienen, zum Teil, unter den Dichtern keinen geringen Rang: nur daß sie keine tragische Dichter sind; nur daß ihr Corneille und Racine, ihr Crebillon und Voltaire von dem wenig oder gar nichts haben, was den Sophokles zum Sophokles, den Euripides zum Euripides, den Shakespeare zum Shakespeare macht. Diese sind selten mit den wesentlichen Foderungen des Aristoteles im Widerspruch: aber jene desto öfterer. Denn nur weiter –
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Zwei und achtzigstes Stück
    Den 12ten Februar, 1768
    4. Aristoteles sagt: man muß keinen ganz guten Mann, ohne alle sein Verschulden, in der Tragödie unglücklich werden lassen; denn so was sei gräßlich. – Ganz recht, sagt Corneille; »ein solcher Ausgang erweckt mehr Unwillen und Haß gegen den, welcher das Leiden verursacht, als Mitleid für den, welchen es trifft. Jene Empfindung also, welche nicht die

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