Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Kraft an die Herzen zu schlagen«. Er sprach vielleicht weniger regelgerecht als Ippolit Kirillowitsch, doch dafür ohne lange Sätze und klarer. Eines jedoch mißfiel unseren Damen etwas – er krümmte immerzu eigentümlich den Rücken, besonders am Anfang seiner Rede, nicht als ob er sich verbeugen wollte, sondern als ob es ihn zu seinen Zuhörern hinzog und er sich anschickte, zu ihnen zu fliegen; dabei schien er sich mit der Hälfte seines langen Rückens nach vorn zu beugen, als hätte er in der Mitte desselben ein Scharnier, als ließe sich der Rücken gewissermaßen in einem rechten Winkel knicken. Zu Beginn seiner Rede sprach er scheinbar unzusammenhängend, als griffe er ohne Methode hier und da einzelne Tatsachen heraus; schließlich ergab das aber doch ein abgeschlossenes Ganzes. Man konnte seine Rede in zwei Teile teilen. Der erste Teil enthielt die Kritik: eine zuweilen boshafte und sarkastische Widerlegung der Anklage. Im zweiten Teil änderte er auf einmal seinen Ton, ja sogar sein ganzes Wesen und schwang sich plötzlich zu Pathos auf. Die Zuhörer schienen das erwartet zu haben und zitterten nur so vor Entzücken. Er kam sogleich zur Sache und begann damit, sein Arbeitsfeld sei zwar eigentlich Petersburg, doch habe er schon wiederholt auch andere Städte Rußlands aufgesucht, um Angeklagte zu verteidigen – aber nur solche, deren Unschuld er entweder mit Sicherheit erkannt hatte oder doch vorausfühlte. »Ebenso erging es mir in vorliegendem Fall«, fuhr er fort. »Schon aus den ersten Zeitungsnachrichten schimmerte mir etwas entgegen, was mich außerordentlich zugunsten des Angeklagten beeindruckte. Kurz, mich interessierte vor allem eine gewisse juristische Tatsache, die sich in der Gerichtspraxis zwar häufig wiederholt, aber, wie mir scheint, nicht leicht in solcher Vollkommenheit und mit so charakteristischen Besonderheiten wie in dem vorliegenden Prozeß. Diese Tatsache müßte ich eigentlich erst am Schluß meiner Rede formulieren; dennoch werde ich meinen Gedanken jetzt gleich am Anfang aussprechen. Es ist eine Schwäche von mir, sofort zur Sache zu kommen, ohne mir die Effekte aufzusparen und ohne mit den beabsichtigten Eindrücken ökonomisch zu verfahren. Damit erweise ich mich vielleicht als schlechter Redner, dafür jedoch als offenherziger Mensch ... Mein Gedanke ist, in knapper Form, folgender: Es besteht ein erdrückendes Zusammentreffen von Tatsachen zuungunsten des Angeklagten – und gleichzeitig existiert keine einzige Tatsache, die einer Kritik standhält, wenn man sie allein für sich betrachtet! Während ich die Sache an Hand von Gerüchten und Zeitungsberichten weiterverfolgte, wurde ich in meiner Ansicht mehr und mehr bestärkt, und dann auf einmal wurde ich von den Angehörigen des Angeklagten gebeten, ihn zu verteidigen. Ich eilte sogleich hierher, und hier wurde meine Überzeugung endgültig. Und um dieses furchtbare Zusammentreffen von Tatsachen zu entkräften und den Nachweis zu liefern, daß jede scheinbar belastende Tatsache – einzeln genommen – unbewiesen und phantastisch ist, deshalb habe ich die Verteidigung in diesem Prozeß übernommen.«
So begann der Verteidiger und rief dann plötzlich aus:
»Meine Herren Geschworenen, ich bin hier ein Fremder. Alle Eindrücke habe ich ohne Voreingenommenheit in mich aufgenommen. Der Angeklagte, ein Mensch, von ungestümem, zügellosem Charakter, hat mich vorher nicht beleidigt, wie er vielleicht Dutzende von Personen in dieser Stadt beleidigt hat, weswegen auch viele im voraus gegen ihn eingenommen sein mögen. Allerdings muß auch ich zugeben, daß sich das sittliche Empfinden der hiesigen Gesellschaft zu Recht empört hat. Der Angeklagte ist wirklich ungestüm und zügellos. Dennoch hat er in der hiesigen Gesellschaft Aufnahme gefunden; selbst in der Familie des hochbegabten Anklägers war er ein willkommener Gast ...« Bei diesen Worten hörte man zwei oder drei der Anwesenden lachen; sie unterdrückten ihr Lachen zwar schnell, aber es war von allen bemerkt worden. Jedermann bei uns wußte, daß der Staatsanwalt Mitjas Besuche in seinem Haus nur ungern gestattet hatte, einzig und allein, weil ihn die Frau Staatsanwalt interessant fand, eine tugendhafte, ehrenwerte Dame, die jedoch über ziemlich viel Phantasie und Eigensinn verfügte und manchmal, besonders bei Kleinigkeiten, gern gegen ihren Mann opponierte. Im übrigen hatte Mitja das Haus dieses Ehepaares nur recht selten besucht. »Dennoch wage ich die
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