Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Vermutung«, fuhr der Verteidiger fort, »daß sich sogar bei einem Mann von so selbständig denkendem Verstand und so gerechtem Charakter, wie mein Opponent es ist, eine gewisse irrige Voreingenommenheit gegenüber meinem Klienten herausbilden konnte. Oh, das ist durchaus natürlich: Der Unglückliche hat es nur zu sehr verdient, daß man ihm mit Voreingenommenheit entgegentritt. Das beleidigte sittliche Gefühl ist bisweilen unerbittlich, und in noch höherem Maß gilt das für das beleidigte ästhetische Gefühl. Zwar haben wir alle in der von hohem Talent zeugenden Anklagerede eine strenge Analyse des Charakters und der Handlungen des Angeklagten gehört, ein streng kritisches Verhältnis zur Sache beobachten können, und um uns über den Kern der Sache aufzuklären, stieg die Untersuchung in solche psychologischen Tiefen hinab, daß das Eindringen in diese Tiefen bei absichtlicher und böswilliger Voreingenommenheit gegen die Person des Angeklagten unmöglich gewesen wäre. Aber es gibt ja Dinge, die in solchen Fällen noch schlimmer und verderblicher sind als die böswilligste, vorurteilsvollste Stellungnahme zur Sache. So zum Beispiel, wenn wir künstlerische Neigungen besitzen, wenn wir das Bedürfnis fühlen, etwas Künstlerisches zu schaffen, sozusagen einen Roman zu verfassen, besonders wenn uns Gott mit reichen psychologischen Gaben ausgestattet hat. Schon in Petersburg, schon als ich mich anschickte, hierherzufahren, machte man mich darauf aufmerksam – und ich wußte es auch selbst, ohne jeden Hinweis von anderer Seite –, daß ich hier als Opponenten einen tiefen, überaus feinen Psychologen vorfinden würde, der sich durch diese seine Eigenschaft schon längst eine gewisse Berühmtheit in unserer noch jungen juristischen Welt erworben hat. Aber, meine Herren, die Psychologie ist zwar eine tiefsinnige Sache, gleicht jedoch einem Stab mit zwei Enden.« Lachen im Publikum. »Oh, Sie werden mir gewiß meinen trivialen Vergleich verzeihen, ich beherrsche nicht die Kunst der schönen Rede. Hier ein Beispiel, ich nehme das erste beste, was mir aus der Rede des Anklägers einfällt. Der Angeklagte klettert nachts im Garten auf der Flucht über einen Zaun und schlägt den Diener, der sich an sein Bein klammert, mit einem Messingstößel nieder. Darauf springt er sofort wieder in den Garten hinunter und beschäftigt sich ganze fünf Minuten lang mit dem Opfer, wobei er sich darüber klarzuwerden versucht, ob er ihn totgeschlagen hat oder nicht. Und der Ankläger will nun um keinen Preis an die Wahrheit der Aussage des Angeklagten glauben, daß er aus Mitleid zu dem alten Grigori hinabgesprungen sei. ›Nein‹, sagt er, ›ist in einem solchen Augenblick etwa so eine Empfindsamkeit möglich? Das ist unnatürlich! Er ist hinabgesprungen, um sich zu überzeugen, ob der einzige Zeuge seiner Freveltat am Leben war oder nicht; folglich hat er damit auch bezeugt, daß er diese Freveltat begangen hat, da er aus keinem anderen Grund, keinem anderen Drang oder Gefühl in den Garten springen konnte.‹ Das ist reine Psychologie! Nehmen wir aber einmal diese selbe Psychologie und legen wir sie an die Sache an, nur vom anderen Ende her, und es wird etwas herauskommen, was keineswegs weniger wahrscheinlich ist. Der Mörder springt also aus Vorsicht hinunter, um sich zu überzeugen, ob der Zeuge lebt oder nicht, dabei hat er soeben im Zimmer des von ihm ermordeten Vaters nach dem Zeugnis des Anklägers ein höchst wichtiges Indiz gegen sich zurückgelassen: das zerrissene Kuvert, auf dem geschrieben stand, es enthalte dreitausend Rubel. ›Hätte er dieses Kuvert mitgenommen, so hätte niemand erfahren, daß ein Kuvert mit Geld vorhanden war, und folglich hätte auch niemand erfahren, daß der Angeklagte das Geld geraubt hatte.‹ Das ist ein Ausspruch des Anklägers selbst. Nun, zu dem einen hat seine Vorsicht also nicht ausgereicht; er hatte den Kopf verloren, es mit der Angst bekommen und war weggelaufen, wobei er ein Indiz gegen sich auf dem Fußboden zurückließ. Doch als er ungefähr zwei Minuten später einen anderen Menschen niedergeschlagen hat, da erscheint sogleich die herzloseste, berechnendste Vorsicht zu unseren Diensten. Aber mag es auch so gewesen sein: Die Feinheit der Psychologie besteht ja eben darin, daß ich unter solchen Umständen jetzt blutrünstig und scharfsinnig bin wie ein kaukasischer Adler und im nächsten Augenblick blind und ängstlich wie ein kläglicher Maulwurf. Doch wenn ich nun schon
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