Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
›Tragt ihn, wohin ihr wollt!‹ Die Jungen hoben den Sarg hoch. Als sie ihn an der Mutter vorbeitrugen, machten sie einen Augenblick halt und stellten ihn hin, damit sie von Iljuscha Abschied nehmen konnte. Als sie jedoch nun das teure Gesichtchen in der Nähe erblickte, das sie die ganzen drei Tage lang nur aus einer gewissen Entfernung hatte sehen können, ging eine Erschütterung durch ihren ganzen Körper, und sie begann ihren grauen Kopf krampfhaft über dem Sarg hin und her zu bewegen, nach vorn und nach hinten.
»Mama, segne ihn, küsse ihn!« rief ihr Ninotschka zu. Die Mama aber zuckte wie ein Automat immer nur mit dem Kopf und schlug sich plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, mit schmerzverzerrtem Gesicht mit der Faust gegen die Brust. Der Sarg wurde weitergetragen. Ninotschka berührte den Mund des toten Bruders zum letztenmal mit ihren Lippen, als er bei ihr vorbeigetragen wurde. Aljoscha wandte sich, als er das Haus verließ, mit der Bitte an die Hauswirtin, sie möchte nach den Zurückbleibenden sehen; sie ließ ihn jedoch nicht ausreden: »Selbstverständlich! Ich werde bei ihnen bleiben, wir sind ja doch auch Christen.« Bei diesen Worten fing die alte Frau an zu weinen. Die Träger des Sarges hatten es bis zur Kirche nicht weit, kaum mehr als dreihundert Schritte. Es war ein klarer, windstiller Tag; es fror, aber nur wenig. Die Glocke läutete immer noch. Snegirjow in seinem alten, kurzen Sommerüberzieher, mit bloßem Kopf, in der Hand seinen alten breitkrempigen, weichen Hut, lief geschäftig und fassungslos hinter dem Sarg her. Er war in ständiger Sorge: Bald streckte er die Hand aus, um das Kopfende des Sarges zu stützen, und störte dadurch nur die Träger, bald lief er nebenher und suchte eine Möglichkeit, wie er behilflich sein könnte. Wenn eine Blume in den Schnee fiel, stürzte er sofort hin, um sie aufzuheben, als ob vom Verlust dieser Blume Gott weiß was abhing.
»Die Brotrinde! Die Brotrinde haben wir vergessen!« rief er auf einmal erschrocken. Doch die Knaben erinnerten ihn sogleich, daß er schon vorhin eine Brotrinde in die Hand genommen hatte und daß sie in seiner Tasche steckte. Er holte sie heraus, und erst nachdem er sich von ihrem Vorhandensein überzeugt hatte, beruhigte er sich.
»Iljuschetschka hat es so befohlen!« sagte er erklärend zu Aljoscha. »Er lag einmal in der Nacht da, und ich saß neben ihm, da sagte er auf einmal: ›Papachen, wenn mein Grabhügel aufgeschüttet ist, dann zerkrümele bitte auf ihm eine Brotrinde, damit die Spatzen herbeifliegen. Ich werde hören, wie sie geflogen kommen, und es wird mir eine Freude sein, daß ich nicht so allein daliege.‹«
»Das ist sehr hübsch«, sagte Aljoscha. »Da muß man öfter Brot hinbringen.«
»Alle Tage, alle Tage!« erwiderte der Stabskapitän eifrig; dieser Gedanke schien ihn richtig zu beleben.
Endlich waren sie in der Kirche angelangt, und der Sarg wurde in der Mitte niedergesetzt. Alle Jungen stellten sich um ihn herum und blieben so während des ganzen Gottesdienstes artig stehen. Es war eine alte, ziemlich arme Kirche, viele der Heiligenbilder hatten gar keine Einfassungen; aber gerade in solchen Kirchen betet es sich am besten. Während der Messe schien Snegirjow etwas stiller zu werden, obgleich von Zeit zu Zeit immer wieder die unbewußte und zwecklose Geschäftigkeit bei ihm durchbrach: Bald trat er an den Sarg, um die Leichendecke zurechtzuziehen oder das Stirnband des Toten in Ordnung zu bringen; wenn eine Kerze aus dem Leuchter gefallen war, stürzte er hin, um sie wieder aufzustellen, und machte sich damit sehr lange zu schaffen. Darauf beruhigte er sich wieder und stand demütig mit sorgenvollem und fast verständnislosem Gesicht am Kopfende des Sarges. Nach der Verlesung der Epistel flüstere er dem neben ihm stehenden Aljoscha zu, die Epistel sei nicht richtig vorgelesen worden, ohne allerdings zu erklären, was er eigentlich meinte. Bei dem Cherubimlied fing er an mitzusingen, aber nicht bis zu Ende; er ließ sich vielmehr auf die Knie nieder, drückte die Stirn auf den steinernen Fußboden der Kirche und lag so ziemlich lange. Endlich kam das Totenamt an die Reihe, und die Kerzen wurden verteilt. Der kaum noch zurechnungsfähige Vater wollte schon wieder in seine sinnlose Geschäftigkeit verfallen, doch das ergreifende Totenlied erweckte und erschütterte seine Seele. Er krümmte sich auf einmal mit dem ganzen Körper zusammen und begann in häufigen, kurzen Stößen zu schluchzen;
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