Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Herzen viel tiefer, als es auf den ersten Blick scheint. Vielleicht ist das auch bei den Moskowitern selber der Fall. Man bedenke nur einmal, wie schwer es doch ist, sich gleich beim ersten Mal klar auszudrücken, sogar wenn man es nur für sich selbst zu tun versucht. Manch ein lebenszäher, starker Gedanke kommt denn auch in drei Menschenaltern nicht klar zum Ausdruck, sodaß das Finale manchmal dem Anfang völlig unähnlich ausfällt...
Alle diese müßigen Gedanken belagerten mich nun unwillkürlich im Waggon auf meiner Fahrt nach Europa, zum Teil übrigens aus Langeweile und infolge des Nichtstuns. Seien wir doch aufrichtig! Über solche Gegenstände pflegen bei uns bis jetzt nur diejenigen nachzudenken, die nichts zu tun haben. Ach, wie ist es langweilig, müßig im Waggon zu sitzen! – wirklich auf ein Haar so, wie es bei uns in Rußland ohne eigene Arbeit langweilig zu leben ist. Wenn man auch gefahren wird, wenn auch für einen gesorgt wird, ja wenn man auch manchmal so eingelullt wird, daß einem, wie man meinen sollte, nichts mehr zu wünschen übrig bleibt, die Langeweile, die Langeweile ist dennoch da, und zwar gerade deshalb, weil du selbst nichts tust, weil andere sich schon gar zu sehr um dich bekümmern, du aber sitze da und warte, bis man dich endlich hingeschafft hat. Weiß Gott, manchmal wäre ich wahrhaftig am liebsten nur so hinausgesprungen aus dem Waggon und seitwärts neben der Maschine auf meinen eigenen Füßen gelaufen. Mag es so auch schlechter gehen, mag ich auch aus Ungeübtheit ermüden, mich im Wege versehen, darauf kommt es nicht an! Dafür gehe ich selbst, mit meinen eigenen Beinen, dafür habe ich eine Aufgabe für mich gefunden und tue sie selbst, dafür werde ich, wenn es geschieht, daß die Waggons zusammenstoßen und kopfüber hinabsausen, nicht mehr mit gefalteten Händen eingeschlossen sitzen und mit meinen Körperseiten fremde Schuld bezahlen ...
Weiß Gott, was alles einem beim Nichtstun manchmal in den Sinn kommt!
Inzwischen begann es schon zu dunkeln. In den Waggons wurde das Licht angezündet. Mir gegenüber saß ein Ehepaar, schon bejahrte Leute, Gutsbesitzer; ich glaube, gute Menschen. Sie reisten nach London, nur auf ein paar Tage, um sich die Weltausstellung anzusehen, die Kinder aber hatten sie zu Hause gelassen. Rechts neben mir saß ein Russe, der aus kommerziellen Gründen seit zehn Jahren in London lebte, jetzt nur auf zwei Wochen Geschäfte halber nach Petersburg gekommen war und, wie mir schien, bereits jede Vorstellung von Heimweh vollständig verloren hatte. Links saß ein echter, ein Vollblut-Engländer, rotblond, mit einem englischen Scheitel und von betontem Ernst. Während der ganzen Reise sagte er zu keinem einzigen von uns auch nur das kleinste Wort, gleichviel in welcher Sprache, am Tage las er unausgesetzt in einem Buch von jenem kleinsten englischen Druck, den nur Engländer ertragen können, ja sogar noch wegen der Bequemlichkeit loben, und abends zog er, sobald es zehn Uhr wurde, sogleich seine Stiefel aus und Schuhe an. Wahrscheinlich hatte er das in seinem Leben einmal so eingeführt und seine Gewohnheiten wollte er offenbar auch auf der Reise nicht ändern. Bald schlummerten alle ein; das Pfeifen und Stampfen des Zuges trieb einen unwiderstehlich in irgend so einen Schlummerzustand. Ich saß, dachte, dachte, und ich weiß eigentlich selbst nicht, wie mir plötzlich jener Satz einfiel: »Überlegung hat der Franzose nicht«, womit ich dieses Kapitel begann. Aber wissen Sie: es unterspült mich etwas und treibt mich, Ihnen diese meine Überlegungen im Eisenbahnwagen mitzuteilen, so lange wir uns noch auf der Reise nach Paris befinden, einfach so ... oder meinetwegen auch im Namen der Humanität: hatte ich doch Langeweile im Waggon, also mögen Sie sich nun gleichfalls langweilen. Doch übrigens, um andere Leser davor zu bewahren, werde ich alle diese meine Überlegungen absichtlich in ein besonderes Kapitel einschließen und dieses ein überflüssiges nennen. Sie, meine Freunde, können sich durch dasselbe durchlangweilen, die anderen aber können es, als ein überflüssiges, auch überspringen. Mit dem Leser muß man nun einmal vorsichtig und gewissenhaft umgehen, mit Freunden aber – nun, da geht's auch so. Also:
Das dritte und vollkommen überflüssige Kapitel.
Übrigens waren das weniger Überlegungen, als gewisse Betrachtungen, wahllose Vorstellungen, sogar Träume »von dem sowohl als wie von jenen:, zumeist jedoch von Null und
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