Werke
die Zeit sie überzogen hatte. Mir war, als befinde ich mich in einer gespenstischen Welt, deren Wirklichkeit seit lange schon versunken sei.
Als ich den Mantel aufgehoben und ihn der Alten wieder unter dem Kinn zugeknöpft hatte, sah sie mich lange schweigend an. Die runzeligen Wangen waren gerötet; aber dennoch sah sie erschreckend verfallen aus; und jetzt sagte sie mit einer so milden Stimme, daß ich sie dieser Menschenmumie nicht zugetraut hätte: »Wissen Sie, mein Lieber, warum ich Ihnen mein Vertrauen schenkte? Gleich, da ich Sie sah – Ihnen allein von allen Menschen? – – Sie haben eine Ähnlichkeit«, fuhr sie fort, als sie keine Antwort von mir erhielt, »eine Ähnlichkeit! – – Unter den jungen deutschen Kaufleuten war einer; ich kannte ihn seit lange! – Junger Mann, haben Sie es schon erlebt, daß ein Menschenkind mit sehenden Augen sein bestes Glück mit Füßen von sich stieß? – War er nicht schön? – Ja, er war schön wie ein Johannes! – War er nicht reich? – Freilich, der da hatte mehr!« Und sie wies mit dem Stabe auf das Seitenstück ihres Jugendbildes.
»Es ist das Bild Ihres seligen Mannes?« fragte ich dazwischen.
»Selig?« – Sie lachte grimmig in sich hinein; dann fuhr sie in ihrem Frage-und-Antwort-spiele fort: »Und war er nicht auch gut?« Sie lachte wieder. »Ja, ja, er war auch gut; aber da lag es! Ich glaube, ich konnte es nicht leiden, daß er gar so gut war! – – Und er hat mich geliebt, der arme Narr; ich weiß, er ließ sich heimlich eine Kopie von meinem Bilde machen und ging dann in die weite Welt. – – Vorbei, längst vorbei!« murmelte sie leise in sich hinein und begann wieder auf und ab zu wandern.
Plötzlich blieb sie stehen. »Wenn ich wüßte, ob er noch am Leben sei oder seine Kinder oder seine Enkel!« Sie ließ den Krückstock fallen und faltete wie betend ihre Hände; ich sah, wie die ganze Gestalt der kleinen Greisin bebte.
Ein namenloses Mitleid befiel mich, und schon öffnete ich die Lippen, um ihr zuzurufen: ich bringe dir den Gruß deiner Jugendliebe, ich bin seines Blutes, du sollst nicht sterben in der Verlassenheit des Hasses!
Da setzte sie hinzu: »Wenn ich es wüßte, ich würde auch das schöne Lärvchen laufen lassen! Sie, keine anderen sollten meine Erben sein!«
Das verschloß mir den Mund.
Sie nannte mir den Familiennamen meines Großvaters.
– »Ich habe ihn nie gehört«, sagte ich.
Die Greisin seufzte. Sie sah sich noch einmal in dem Saale um. »Es ist alles vorzüglich wohl erhalten!« sprach sie dann wieder in ihrer alten hochtrabenden Weise; »machen wir das Testament in Ordnung! – Aber, mein Lieber, keine fremden Leute mir ins Haus! Der Mann der alten Brotfrau und ihr Enkelsohn können Zeugen sein; die sind dumm genug dazu!«
Sie nahm den Krückstock, den ich ihr aufgehoben hatte, und hing sich wieder an meinen Arm; aber sie umklammerte mich jetzt, als fürchte sie zu fallen, und da ich zu ihr hinabblickte, starrte eine wahre Totenmaske mir entgegen; die einstmals schöne Nase stand scharf und hippokratisch zwischen den großen grellen Augen.
Ich erschrak und suchte sie nochmals zu bewegen, sich einem Arzte anzuvertrauen; aber sie schüttelte nur den Kopf, obgleich ihre Kinnbacken wie im Fieber aneinanderschlugen. »Die Ähnlichkeit!« hörte ich sie nochmals vor sich hin murmeln; »oh, die Ähnlichkeit!«
Sie war so schwach, daß ich sie die Treppe fast hinuntertragen mußte; dennoch, als wir unten angelangt waren, schleppte sie sich an die Haustür, und ich hörte, wie sie hinter mir die Kette einhakte.
– – Beim Austritt aus dem Hause sah ich unsere junge Freundin Mechtild die Straße herabkommen. Schon verspürte ich eine Neigung, ihr wo möglich zu entweichen – denn ich schämte mich etwas meines Jesuitismus zu ihren Gunsten –, als ich in ihrer heiteren Weise von ihr angerufen wurde.
»Nun, Herr Stadtsekretär? Sie kommen aus dem Hause meiner Tante?«
»Freilich«, erwiderte ich, »die, wie Sie sagen, nicht Ihre Tante ist.«
– »Was hatten Sie dort zu tun? Am Ende sind Sie es, der mir die große Erbschaft wegfischt!«
»Gewiß! Warten Sie nur noch ein paar Tage, da werden sich große Dinge offenbaren.«
– »Und Sie glauben wohl, ich werde Ihnen jetzt eine Szene weiblicher Neugierde zum besten geben! Sie irren sich, Herr Stadtsekretär! Aber« – und sie zeigte mit ihrem Sonnenschirm nach dem finsteren Hause – »wenn Sie dort Gewalt haben, reißen Sie doch einmal alle Fenster auf.
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