Werke
Weißt du, die beiden Redakteure, die im Winter mit uns aßen! Ich begegne ihnen jeden Augenblick; die frechen Kerle sehen mich schon als ihre Beute an; das gibt einen Artikel – ah, sacré nom de Dieu!« Und er knirschte mit den Zähnen.
Ich suchte ihn zu beruhigen; jeden Abend redete ich dasselbe und jeden Abend umsonst, und immer wieder begann dasselbe Spiel aufs neue.
Die Justiz war ihm gleich einem furchtbaren gespenstischen Raubvogel, der unsichtbar über ihm schwebe, jeden Augenblick bereit, auf ihn herabzustoßen und mit den unentrinnbaren Krallen ihn zu packen. Wenn ich bei einem Besuche etwas heftig an seine Tür geklopft hatte, starrte er bei meinem Eintritt mir schier verstört entgegen: »Du? – Wie hast du mich erschreckt!« Saßen wir dann zusammen, und es wurden Schritte auf der Treppe laut, dann stand er auf und sagte zitternd: »Da kommt wohl der Gerichtsdiener, um mich vorzuladen!« Kam auf der Straße ein solcher uns entgegen, so zwang er mich, mit ihm umzukehren oder in irgendeinen Laden einzutreten, bis der Mann vorbei war, oder wenn ich nicht wollte, verließ er mich und kam nicht wieder. »Ich halt’s nicht aus«, rief er einmal, »wenn das nicht bald zu Ende ist!«
– – Eines Oktoberabends, da ich versprochenermaßen zu ihm ging, sah ich auf dem Trottoir eine Mädchengestalt vor mir herschreiten, die mich auffallend an Linele erinnerte; sie hatte ein dunkles Tüchlein um den Kopf, und ich sah blonde Härchen von den Schläfen wehen, als sie eben unter einer Straßenleuchte ging. Sollte sie wieder in Stuttgart sein? Marx hatte mir kein Wort davon gesagt. Ich machte große Schritte, um sie einzuholen; als ich sie erreicht hatte, wandte sie den Kopf, und ich hatte mich nicht getäuscht, sie war es selber, die mit großen Kinderaugen mich so erschrocken ansah. Sie kannte mich, sie wußte von Marx, daß ich in ihr Verhältnis zu diesem völlig eingeweiht war; aber – ob wir beiden jungen Menschen im Augenblick das Richtige nicht zu finden wußten und es deshalb für immer versäumten – sie zögerte ein paar Sekunden; dann erwiderte sie meinen Gruß und schritt eilig mir voraus. Ich gewahrte noch, wie ein Begegnender ihr mit unverschämter Gebärde ins Gesicht sah, und hörte, wie sie einen leichten Schrei ausstieß; auch da trat ich nur laut einige Schritte vorwärts, so daß der Mensch sie gehen ließ; vergebens sagte ich mir später, daß sie mich traurig und wie hülfeflehend angesehen habe.
Stürmisch stieg ich die Treppen zu Marx hinauf. Er saß müßig im Sofa und hatte mit seinem scheußlichen Knaster das ganze Zimmer vollgedampft. »Du lärmst ja über die Maßen. Ist irgendwo der Himmel eingestürzt?« frug er gereizt und blies einen dicken Qualm von sich.
»Es geht nur dich an«, erwiderte ich. »Weißt du, daß dein Linele wieder hier ist? Ich bin ihr eben erst vorbeigegangen.«
Er sah mich lange wie mit toten Augen an. »Ich weiß es«, sagte er dann.
»Du hast sie schon gesprochen?«
»Was meinst du?«
Ich wiederholte meine Worte.
»Nein«, sagte er, »ich will sie auch nicht sprechen.«
»Du willst nicht? Weshalb willst du nicht?«
»Nein«, und er streckte seine Hände aus und schien sie voll Mitleid zu betrachten, »das kann ich nicht; ich darf das reine Kind mit diesen Händen nicht berühren. Ach, lieb Herze, ich glaube, es ist alles aus.«
Dann nahm er seine Pfeife wieder und vergrub sich in der Sofaecke.
»Ich glaube, du bist ein Narr geworden!« schrie ich.
Aber er nickte nur: »Ich glaube es selbst mitunter.«
Ob Linele seinen Zustand ahnte; ob sie nicht oft hinter ihrer Gardine beklommen und verlangend zu ihm hinüberlauschte, davon erfuhr ich nichts; denn es kam keine Gelegenheit wieder, mit ihr zu reden; an sie zu schreiben aber wagte ich nicht.
Es waren noch köstliche Herbsttage; Marx hatte ich eine kurze Zeit nicht gesehen, ich war mit den übrigen Freunden von einem Sonnabend zum Montag auf Wanderungen in dem schönen Neckartal gewesen, wozu ich vergebens auch ihn zu bereden versucht hatte. Jetzt war es am 24. Oktober, noch früh am Vormittag; und ich werde das Datum nie vergessen. Ich saß eben vertieft in eine Harmonieaufgabe auf meiner Sofabank, aber ich konnte augenblicklich nicht damit zustande kommen, die falschen Quinten quälten mich, und so sprang ich empor und riß das Fenster auf, um einen Augenblick frische Luft zu atmen, da sah ich Marx die Straße heraufkommen. Er ging langsam und schien nicht aufzusehen; als er näher kam,
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