Werke
gewahrte ich, daß er ein Päckchen Papiere in seiner Hand hielt.
»Guten Morgen!« rief ich hinunter.
Er schrak sichtlich zusammen. »Guten Morgen!« rief er dann ebenfalls.
»Wohin willst du? Und was für Papiere trägst du da?«
»Ich bin wieder vorgeladen«, rief er hinauf, »ich gehe aufs Gericht!«
»Gott Dank! So wirst du ja die Torheit endlich mal los; mach’s gut!«
Er nickte, aber schon im Weitergehen und ohne nach mir umzuschauen.
Ich hatte schon wieder ein Weilchen hinter meinen Noten gesessen und wollte eben zum Niederschreiben eines glücklichen Gedankens die Feder ansetzen, da war mir, als hörte ich es von der Straße her pfeifen; kaum hörbar, aber doch: »Es waren zwei Königskinder.«
Dann kam es noch einmal, ganz deutlich; ich warf die Feder hin und lief ans Fenster, das noch offenstand; ich weiß nicht, wie mir war; als ob ich Unheimliches erfahren sollte. Als ich mich umsah, gewahrte ich Marx an einer entfernten Straßenecke ; ich sah sein Antlitz nicht ganz deutlich, aber mir war, als blickte er mich unaussprechlich liebevoll und traurig an.
»Marx!« rief ich. Er antwortete nicht, er blieb nur unbeweglich stehen und sah mich immer an; dann nickte er mir noch einmal langsam zu, und dann war er verschwunden.
Ich schloß das Fenster und setzte mich wieder an meine Arbeit, um den vorhin gefaßten Gedanken niederzuschreiben; aber ich hatte ihn vergessen, ich konnte überhaupt nicht arbeiten; immer sah ich Marx so wunderlich an jener Ecke stehen und lautlos dann verschwinden. Weshalb denn hatte er mich gerufen? Was wollte er? Mich nur noch einmal sehen? Ich sprang auf. Nur noch einmal? Woher kam mir der Gedanke? Aber es war doch seltsam, und mir lag es wie ein Zentner auf der Brust.
Ich hatte eine Klavierstunde auf dem Konservatorium zu nehmen; ich zog mich an und ging auf einem längeren Umwege dahin. Als ich bei der Wohnung des Portiers vorbeiging, trat dessen Frau heraus und überreichte mir ein in Papier geschlagenes Päckchen. »Des soll i Ihne vom Herrn Marx gebe«, sagte sie, »aber sieht der jetzt aus! Brot könnt man mit ihm bettle.«
Ich erschrak heftig, denn es war offenbar dasselbe Päckchen, das ich vorhin in der Hand des Freundes gesehen hatte. Als ich in das Klavierzimmer trat, war noch niemand da, und ich machte mich mit zitternder Hand daran, die Bindfäden aufzulösen : seine mir bekannten Notizbücher mit den Bekenntnissen seiner Liebe; darin Lineles Bildnis, ein Papier mit blonden Härchen, zwei Konzertbillette für morgen, vertrocknete Blumen – das alles fand ich, aber kein aufklärendes Wort dabei.
Als der Professor eingetreten war, ging es mir wie Marx nach unserer Sängerfahrt: ich spielte ohne jeden Anstoß, die schwierigsten Passagen flogen mir nur so aus den Fingern, daß der Lehrer mich befremdet und doch höchst beifällig ansah. Aber es ging nicht länger, ich sprang auf: »Verzeihung, Herr Professor! Ich kann nicht länger spielen!«
»Ei, wie? Sie spielen ja heute über alle Maßen!«
»Eben deshalb!« Und ich erzählte ihm, was vorgefallen war.
Mein Lehrer war derselbe gütige Mann, der auch Marx unterrichtet hatte. Er war gleich mir erschrocken: »Das gibt ein Unheil!« rief er. »Kommen Sie, es ist keine Zeit zu verlieren, wir müssen auf die Polizei; es muß Anzeige gemacht werden; Gott weiß, was der im Sinne hat!«
»Was meinen Sie?« frag ich beklommen.
»Nun – mir ist bei ihm mitunter gewesen, als könne er gelegentlich um einen Pfifferling sein Leben aus dem Fenster werfen! Aber, daß wir auch das Rechte tun, suchen Sie erst Näheres zu erfahren, vielleicht – wer weiß, ihn selbst zu finden!«
Ich rannte fort, zuerst nach seiner Wohnung, dann zu den Freunden und mit ihnen überall hin, wo wir ihn nur vermuten konnten; aber wir erfuhren nichts; ich war noch ohne Mittagessen, als ich nach meiner Wohnung zurückkehrte.
»Auf Ihrem Tisch liegt e Brief!« sagte mein zehnjähriges Schneiderdirnlein, als ich meine Treppen erklommen hatte.
Ja da lag ein Brief; ich riß ihn auf, er war von Marx.
»Es ist aus«, schrieb er, »ich kann nicht weiter. Mein Freund, mein liebes Herze, verzeih mir, daß ich Dich verlasse! Geht nach dem Vogelsangsee, dort findet ihr, was von mir übrig, aber für alle Lebensnot nicht mehr empfindlich ist, und sorget gütig, daß auch das zur Ruhe kommt. Und dann – behalt mich noch ein wenig lieb!«
So weit las ich unter stürzenden Tränen; dann folgte eine Verteilung seiner kleinen Habseligkeiten, an mich
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