Werwelt 02 - Der Gefangene
an nichts erinnern konnte als an seinen Namen, ein Kind jedoch, das der alte Bauer liebgewinnen mußte, wie einen eigenen Sohn. In dieser Gestalt des Findlings wurde das Tier von dem Bauern und seiner Frau umsorgt und geliebt, während es die Gepflogenheiten der Menschen erlernte und sich auf seine nächste Wandlung vorbereitete. Der kleine Robert war ein echtes Menschenwesen, kein Trugbild, das das Geschöpf aus dem Sumpf seiner Umwelt vorgaukelte; er war ein echter Junge, der einen eigenen Willen besaß, und manchmal war es schwierig für das Tier, mit ihm fertig zu werden.
Es kam ein Tag, als die Familie von einer Bande Landstreichern bedroht wurde, die das Haus ausrauben wollte. Roberts Liebe zu seiner Familie erwies sich stärker als der Wille des Tieres, unentdeckt zu bleiben. Die Verwandlung löste Entsetzen und Blutvergießen aus und den Tod des Bauern, der von einem unbeabsichtigten Schuß aus einer Schrotflinte getroffen wurde. Die Bauersfrau hatte die Verwandlung miterlebt, und obwohl das Geschöpf, das sie aus der Gestalt des Jungen hervortreten sah, keine direkte Schuld am Tod ihres Mannes trug, glaubte sie fest, es müßte ein böser Geist aus den Tiefen der Hölle sein, und konnte Robert nicht als menschliches Wesen annehmen. Der Junge übersiedelte zu seiner geliebten Tante, doch seine Pflegemutter gab so lange keine Ruhe, bis es ihr gelang, den teuflischen Geist bloßzustellen. Durch Hypnose wurden der Junge und das Geschöpf das in seinem Geist wohnte, eingelullt, ein Befehl wurde gegeben, und da zeigte sich einen Moment lang das Tier. Darauf lief Robert fort, entschwand aus dem Gesichtskreis seiner Familie.
Doch die Schutzmechanismen, mit denen eine launische Natur das Geschöpf ausgestattet hatte, erlaubten ihm nicht, eine neue Familie zu suchen. Es mußte im Kreis jener Familie bleiben, die es ursprünglich gewählt hatte, um seinen Lernprozeß fortzusetzen. Sein Instinkt führte es zur Großmutter der Familie, die in einem anderen Staat lebte, und dort verwandelte es sich in einen zwölfjährigen Jungen namens Charles Cahill, einen Jungen von gewinnendem Wesen und großem Charme, der der alten Frau versprach, für seinen Unterhalt zu arbeiten, wenn sie ihm nur gestattete, die Schule zu besuchen. Nahezu ein Jahr lang blieb Charles dort, wuchs zum jungen Mann heran, so wie das Geschöpf in ihm an Größe und Verständnis wuchs – ein Doppelwesen, dessen beide Seiten ihren eigenen Willen und ihre eigenen Ziele hatten.
Doch auch für Charles kam ein Moment, als das Leben ihn verriet. Obwohl er zum Lokalhelden geworden war und von seinen Freunden geachtet wurde, stürzten ihn seine eigenen Instinkte, von den machtvollen Trieben des Geschöpfes aufgeladen, mit dem er sein Dasein teilte, in tiefste Beschämung. Den Vorhaltungen und Bitten des Geschöpfes zum Trotz weigerte er sich, sein Leben in dieser Gemeinde fortzusetzen. ›Das Tier‹, wie Charles es getauft hatte, wußte nun, daß es weiterziehen, ein anderes Mitglied der Familie aufspüren mußte, um sein Dasein fortführen und jenem Ziele näher kommen zu können, das noch immer im Dunklen lag.
Und so begab es sich von neuem auf Wanderschaft.
Teil I
Die Dritte Person
1
Mai 1936
Chicago ist eine Enttäuschung. Nach einer Wanderung von mehreren Nächten, die ich, wie ich mir das neuerdings gestatte, hier und dort unterbrochen habe, um im Stall eines Bauernhofs meine Kurzweil zu suchen, treffe ich in der von ständigen Winden durchzogenen Stadt ein, ein Haufen funkelnder Lichter, die sich in einem See spiegeln. Aus dem Leben meiner zweiten Person, Charles, erinnere ich Claire Lanphier, die die Phantasie des Jungen mit ihren Erzählungen von Chicago entzündet hat.
»Der Loop, Charles«, sagt sie und ihre Augen blitzten in der Dunkelheit jener wilden Fahrt durch den Schneesturm. »Das Palmer House und die Altstadt, die Museen und Restaurants und der See.«
Das gedämpfte Heulen des winterlichen Sturms, der den rasend schlingernden Wagen umtobt, tönt mir wieder in den Ohren, während ich ausgestreckt auf den Steinen liege und über das dunkle, glatte Wasser hinwegblicke. Charles war ein feiner Kerl, so fehlgeleitet in seiner Rolle des Helden. Ich wälze mich auf die Seite und überlege beinahe mit einem Anflug von Sehnsucht, wo wohl Mrs. Lanphier an diesem Abend sein mag. Einmal träumte ich in seliger Trunkenheit sogar davon, sie in eine Höhle zu verschleppen, so verführerisch waren ihre Geschichten vom Leben samt ihrer
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