Wesen der Nacht
möglich. Oder Drizzle wollte es so. Während der Kobold an meinen Fesseln arbeitete, beobachtete ich, wie Cale sich vor dem Tor aufbaute. Er sagte etwas zu dem Grauhaarigen, das ich über dem Lärm des Wasserfalls nicht verstehen konnte.
Du musst das Tor für mich öffnen, erklang seine Stimme in meinem Geist. Beeil dich!
Wie soll ich das anstellen?
Du hast das Blut eines Wächters in dir und neben dir steht derjenige, der das Transferwort kennt. Lass es dir sagen und sprich es leise aus. Das wird genügen, um das Tor zu öffnen.
Ist es nicht besser, wenn du das tust?
Ich kann zwar das Wort sagen, aber ich werde damit nichts erreichen. In meinen Adern fließt das falsche Blut.
Wenn er das Transferwort sprach, ohne dass etwas passierte, würde sein Schwindel auffliegen. Zumindest würden sie kapieren, dass er nicht vorhatte, ihnen zu helfen. Aber wenn ich das Tor für ihn öffnen sollte, würde er genau das tun– ihnen helfen. Cale, was hast du vor? Wenn wir das Tor öffnen, werden sie dich töten!
In ein paar Minuten geht der Mond auf. Meine Chancen, diese Nacht zu überstehen, gehen ohnehin gegen null. Auf diese Weise kann ich zumindest noch etwas für dich und deinen Vater tun. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: Vertrau mir.
Ich würde alles tun, um ihm zu helfen. Wenn ich nur wüsste, wie ich verhindern konnte, ihn zu verlieren.
Unauffällig rückte ich näher an Dad heran. »D as Transferwort«, raunte ich. »S ag es mir.«
»W as?«
»T u es einfach!«
Er flüsterte mir ein Wort zu und ich ließ es ihn noch zweimal wiederholen, um sicher zu sein, es richtig verstanden zu haben. Ich bin bereit, Cale.
Dann sag das Wort. Ich werde die Lippen bewegen. Ich setzte bereits an, es auszusprechen, als seine Stimme noch einmal erklang: Ich liebe dich, Prinzessin.
Seine Worte trafen mich mitten ins Herz. Unfähig etwas zu erwidern und kaum in der Lage, einen Ton herauszubringen, sandte ich einen letzten Gedanken: Jetzt!
Dann sprach ich das Transferwort: »R abandin.«
Ich sah, wie Cale die Lippen bewegte, und beinahe im selben Moment wurde es hell. Das silberne Licht erschien aus dem Nichts. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, war es plötzlich da. Derselbe gleißende Ring, den ich auch gestern Morgen gesehen hatte, als ich dem Schatten in die Höhle gefolgt war. Unglaublich, dass das gerade einmal einen Tag her war. Nach allem, was sich seitdem ereignet hatte, kam es mir vor wie aus einem anderen Leben. Das Leuchten überstrahlte den Fackelschein und drang bis in den letzten Winkel der Höhle. Doch es war nicht das Licht, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern der schwarze Strudel, den es umrahmte.
Das Tor.
Der Strudel erzeugte einen Sturmwind, der an den Haaren und der Kleidung derer zerrte, die sich unmittelbar davor befanden. Dort, wo Dad und ich standen, war lediglich ein leiser Hauch zu spüren.
Der Grauhaarige umfasste das Messer fester. Cale stand neben ihm und rührte sich nicht– auch nicht, als der Mann die Hand mit dem Messer hob. Erst im letzten Moment duckte er sich unter der tödlichen Klinge hinweg. Dann war er plötzlich hinter dem Grauhaarigen, statt ihn jedoch anzugreifen, packte er Josh, der ihn vollkommen überrascht anstarrte, und verpasste ihm einen heftigen Stoß, der ihn durch das Tor katapultierte. Cales Blick richtete sich auf Marissa, die erschrocken zurückwich.
»P ass du auf die beiden auf«, rief Mick Supermarkt zu und rannte los in Richtung des Tors.
Der Grauhaarige hatte sich umgedreht und hob die Waffe zum Angriff.
» Cale!« Ich brüllte seinen Namen in meinem Geist und schrie ihn gleichzeitig laut heraus.
Er wirbelte herum.
Die Klinge stieß zu.
Doch statt sich in einem tödlichen Streich in seine Brust zu bohren, traf sie ihn lediglich an der Schulter. Ein blutiger Schnitt erblühte auf seinem weißen Shirt. Cale fuhr zurück, um einem weiteren Angriff zu entgehen.
Drizzle hatte endlich meine Fesseln gelöst. »K ümmere dich um Dad«, rief ich Drizzle zu. Im selben Moment sprang ich vor und schlug Supermarkt, dessen Aufmerksamkeit auf das Tor gerichtet war, meinen Ellbogen ins Gesicht. Er taumelte zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Höhlenwand, ehe er sich wieder fing.
Was hatte Gus immer gepredigt? Dahin, wo es wehtut! Zwei Schritte, dann stand ich vor Supermarkt und riss mein Knie nach oben. Er versuchte noch, sich wegzudrehen, doch er war eine Spur zu langsam. Ich traf exakt dort, wo es am meisten wehtat. Mit einem
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