Westmoreland 4 Das Wunder der Liebe
1.
Die Klänge der Musik und das Geräusch der Stimmen blieben hinter ihr zurück, als Julianna Skeffington die Terrassenstufen des hellerleuchteten Landhauses hinablief, in dem sechshundert Mitglieder der Polite Society an einem Maskenball teilnahmen. Der streng angelegte Garten vor ihr wurde von Fackeln beleuchtet und wimmelte von kostümierten Gästen und Dienern in Livree. Am Ende des Gartens war ein Irrgarten aus beschnittenen Hecken gerade noch auszumachen, und genau dorthin zog es Julianna.
Sie drückte den Reifrock ihres Marie-Antoinette-Kostüms mit beiden Händen zusammen, tauchte in die Menge ein und bewegte sich so behende wie möglich zwischen den Rittern, Hofnarren, Straßenräubern, Königen, Königinnen, Shakespeare-Charakteren sowie einem beträchtlichen Aufgebot an einheimischen und exotischen Tieren hindurch.
Sie sah, daß sich zwischen den Gästen ein Weg öffnete und lief darauf zu, mußte dann aber einen Schritt zur Seite treten, um einem Zusammenstoß mit einem großen Baum auszuweichen, an dessen Zweigen rotseidene Äpfel hingen. Der Baum verneigte sich galant vor Julianna. Einer seiner Äste lag um die Taille einer Melkerin mit Milcheimer.
Sie brauchte ihre Schritte nicht zu verlangsamen, bis sie sich dem Zentrum des Gartens näherte, wo einige Musiker zwischen zwei römischen Brunnen zum Tanz aufspielten. Mit einem Wort der Entschuldigung trat sie an einem hochgewachsenen schwarzen Kater vorbei, der einer kleinen grauen Maus gerade etwas ins rosige Ohr flüsterte. Er blieb lange genug stehen, um einen anerkennenden Blick auf das tiefausgeschnittene Mieder von Juliannas weißem Rüschengewand zu werfen, lächelte ihr kühn in die Augen und und zwinkerte, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der entzückenden kleinen Maus mit den absurd langen Schnurrhaaren zuwandte.
Verwirrt über das merkwürdige Verhalten der Gäste, dessen Zeuge sie heute abend war, besonders hier im Garten, warf Julianna einen schnellen Blick über die Schulter zurück und sah, daß ihre Mutter den Ballsaal verlassen hatte. Am Arm eines unbekannten Mannes stand sie auf der Terrasse und überblickte aufmerksam den Garten. Sie hielt Ausschau nach Julianna. Mit dem Instinkt eines Bluthundes wandte ihre Mutter den Kopf und sah direkt in Juliannas Richtung.
Der vertraute Anblick verlieh Juliannas Füßen buchstäblich Flügel, bis sie auf das nächste Hindernis auf ihrem Weg zum Irrgarten traf: eine große Gruppe lärmender Männer, die unter einem Baum standen und dröhnend über einen linkischen Hofnarren lachten, der erfolglos mit Äpfeln zu jonglieren versuchte. Anstatt vor ihnen vorbeizugehen, was sie den Blicken ihrer Mutter ausgesetzt hätte, hielt es Julianna für weiser, hinter ihnen zu passieren.
»Entschuldigen Sie, meine Herren«, sagte sie und versuchte, sich zwischen den Männerrücken und Baumstämmen hindurchzuzwängen. »Ich möchte vorbei. « Doch anstatt zur Seite zu treten, wie es die simpelsten Höflichkeitsregeln erforderten, blickten zwei von ihnen über die Schulter, um sich dann ganz zu ihr umzudrehen.
»Aber, aber. Wen haben wir denn hier? « sagte einer von ihnen mit sehr junger und eindeutig berauschter Stimme, während seine Finger den Baumstamm neben ihrer Schulter umfaßten. Er verlagerte seinen Blick auf einen Diener, der ihm ein bis zum Rand gefülltes Glas anbot. Er nahm es und streckte es Julianna entgegen. »Eine kleine Erfrischung gefällig,
Ma’am? «
Im Moment sorgte sich Julianna weit mehr darüber, von ihrer Mutter entdeckt, als von einem angetrunkenen jungen Mann belästigt zu werden, der kaum noch gerade stehen konnte und dessen Gefährten ihn mit Sicherheit davon abhalten würden, sich noch unmöglicher zu benehmen als jetzt schon. Sie nahm das Glas, duckte sich unter seinem Arm hindurch und lief schnell weiter, ihrem Ziel entgegen.
»Vergiß sie, Dickie«, hörte sie seinen Gefährten sagen. »Das halbe Ballett und die gesamte Demimonde ist heute abend hier. Du kannst fast jede Frau haben, auf die dein Auge fällt Die da hatte keine Lust zum Spielen. «
Julianna erinnerte sich daran, gehört zu haben, daß einige der Spitzen der Gesellschaft Maskenbälle mißbilligten besonders für wohlerzogene junge Damen - und nach allem, was sie heute abend erlebt und gehört hatte, wußte sie auch warum! Versteckt hinter Kostümen und Masken benahmen sich einige Mitglieder der Gesellschaft wie... wie gewöhnlicher Pöbel.
2 .
Als sie den Irrgarten erreicht hatte, wandte sich
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