Whitley Strieber
deines ewigen Hüters in dich hineinfließen«, sagte Miriam. »Du wirst ein Teil von mir werden und ich ein Teil von dir. Begreifst du das?«
»Ich denke schon«, antwortete Leo mit leiser Stimme.
»Du wirst das ewige Leben bekommen.«
»Miri!«
Miriam warf Sarah einen so wütenden Blick zu, dass dieser vor Schreck die Kinnlade herunterfiel.
»Das ewige Leben! Aber du wirst durch unzerstörbare Fesseln für alle Zeiten an mich gebunden sein. Ich erwarte von dir, dass du mir, ohne zu zögern, in jeder nur denkbaren Weise dienst. Es wird niemals enden. Begreifst du das?«
Leo wandte Sarah ihr tränenüberströmtes Gesicht zu, und Sarah sah den flehenden, aus dem tiefsten Innern dieses armen Menschen kom- menden Blick. Eine Seele wurde geraubt, und diese Seele war sich dessen sogar bewusst. Aber Leo sagte nichts.
»Steche die Nadel hinein.«
»Nein«, sagte Sarah. »Nein!«
»Mach schon!«
»Leo, das ist nicht richtig!«
Sie versuchte Leo in die Augen zu schauen, aber Leo wich ihrem Blick aus. Miriam nahm die Nadel und stieß sie in Leos Arm. Leo schrie auf.
Sarah rückte die Nadel zurecht und fixierte sie mit einem Klebestrei- fen.
»Wir können es gerne lassen, Leo«, sagte Miriam. »Ich habe noch nicht angefangen.«
»Es tut weh!«
»Ich wiederhole noch einmal: Wir können es gerne lassen.« Leo fing wieder an zu weinen.
Sarah empfand Ehrfurcht vor dem, was sie sah. Sie hatte eine plötzli- che, elektrisierende Erkenntnis darüber, was die Hüter waren und was Miriam wirklich war. Die Hüter waren in der Tat eine Naturgewalt, und man mochte Einzelne zwar töten können, aber aussterben würden die Hüter nie. Ganz gleich, wer sie jagte, die Hüter würden auf die eine oder andere Weise immer auf Erden wandeln und versuchen, den Menschen die Seelen zu rauben.
Miriam nahm die Handpumpe in ihre langen, dünnen Finger und be- gann, den Kolben herunterzudrücken. Leo bäumte sich laut schreiend auf. Miriam drückte den Kolben noch ein Stück herunter. Leos Arm wurde feuerrot, und sie schwitzte aus allen Poren.
»Wie fühlt es sich an?«, fragte Sarah.
»Als stünde mein Arm in Flammen!«
»Ist dir schummrig, schwindlig?«
»Ich sehe eine altertümliche Stadt!«
Halluzinationen. Interessant.
Sarah fühlte Leos Halsschlagader. Ihr Puls raste. Sie befühlte ihre Stirn. Heiß und trocken. Sie nahm die Eisbeutel und legte sie auf Leos Körper. Leo begann zu zittern.
Miriam drückte den Kolben noch ein Stück herunter, wartete, pumpte weiter. Leos Augen sanken in die Höhlen zurück.
»Langsam«, mahnte Sarah. »Sie wird ohnmächtig.«
Leos Darm entleerte sich.
»Wisch es weg«, zischte Miriam, und Sarah machte sich sofort mit Lappen, Tüchern und einer Schüssel an die Arbeit.
Leo schrie und stöhnte. Sarah musste sie festhalten, damit sie sich nicht die Nadel aus dem Arm riss. Sie wand sich, bäumte sich auf, warf den Kopf hin und her.
Auf ihrer Oberlippe und ihrer Stirn sammelte sich rosafarbener Schweiß. Die Kapillargefäße in ihren oberen Hautschichten platzten. Sarah maß ihren Blutdruck – 270 zu 140. Pulsrate 130. Körpertem- peratur 40 Grad. Sie hatte noch eine halbe Stunde zu leben, noch fünf-
zehn Minuten bis zur Schädigung des Hirns oder bis zu einem Schlag- anfall. Sarah holte neue Eisbeutel, legte ihr einen in den Nacken, einen weiteren zwischen die Beine. Die Temperatur fiel auf 39, 8 Grad. In den nächsten zehn Minuten pumpte Miriam noch vier Mal Blut in Leos Körper. Leo kam zu sich und schaute aus schmerzerfüllten Au- gen zu ihnen auf.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Sarah.
»Wasser, bitte ...«
Miriam zog die Nadel heraus. Sarah reinigte Leos Wunde mit Jod und Alkohol und brachte mit einem kleinen Druckverband die Blutung zum Stillstand. Miriam brauchte sie nicht zu verarzten. Deren Wunde würde innerhalb einer Minute verheilen.
»Woher wusstest du, wann du aufhören musst?«
»Ich sah es an ihrer Haut.«
Hüter konnten beim Menschen praktisch jede Krankheit diagnostizie- ren, indem sie mit einem Blick den Farbton seiner Haut analysierten. Bemerkenswert.
»Was wäre geschehen, wenn du weitergemacht hättest?«
»Ich hätte mein Blut verschwendet. Sie wäre gestorben.«
Miriam nahm Leo in die Arme und führte sie ohne ein weiteres Wort zu Sarah hinaus. So fremdartig, so nicht-menschlich wie in diesem Au- genblick hatte Sarah sie noch nie gesehen. Sie begriff, dass Miriams gesamte Persönlichkeit eine Täuschung war. Wenn man sie so sah, wurde einem bewusst, dass
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