Whitley Strieber
Seine Finger würden sich wie kalter Stahl anfühlen und seine Nägel sich in ihre Haut bohren, als versuchten sie ihre Venen zu erreichen.
Jetzt aber waren nur winzige Veränderungen zu bemerken – das leichte, von einem knöchrigen Finger ausgelöste Kitzeln auf ihrer Handfläche und das vage Kratzen eines seiner langen, harten Finger- nägel auf ihrem Handballen.
Sie ließ ihn los. In seinen Augen glomm ein Feuer. Sie sah es – aber war es wirklich vorhanden? Dann hörte sie die Geräusche – denn die Leiche machte Geräusche, wenn Sarah sie besuchte. John Blaylock regte sich – die ausgetrockneten Muskeln, die tote Haut; alles geriet unmerklich in Bewegung. Aber die Geräusche bestanden nur aus ei- nem leisen Rascheln, kaum lauter als das Flüstern des Windes, doch es war unverkennbar ein lebendiges Geräusch.
Mit ihrer hellen, sanften Stimme sang sie ihm ein Wiegenlied, das je- der von Miriams Artgenossen kannte:
»Schlafe, mein Kind, in Frieden sollst ruh'n,
Im Schoße der dunklen Nacht ...«
Dabei beließ sie es. Miriam war sicher nicht erfreut über diese Verzö- gerung. Aber Sarah hatte nunmal eine Beziehung zu John und den Anderen aufgebaut. Eines Tages würde sie ihnen entweder ein neues Leben oder die Erlösung des wahren Todes schenken. Ja, eines Ta- ges würde sie so weit sein.
Ihre Forschungen waren viel weiter gediehen, als sie Miriam hatte wissen lassen. Tatsächlich verstand sie mehr über das physikalische Wesen der Seele als jeder andere Wissenschaftler auf der Welt. Der Grund dafür war, dass die Wissenschaft die Existenz der Seele leug- nete. Aber sie war eine Seele gewesen, gefangen in ihrem toten Kör- per. Deswegen wusste sie, dass es die Seele wirklich gab. Sie hatte entdeckt, dass dieses hochkomplexe elektromagnetische Wesen mit technologischen Mitteln nachzuweisen war, denn es war Teil der phy- sischen Welt, kein abgehobenes, übernatürliches Mysterium. Die Seele bestand aus lebendem Plasma, das sich aus Billionen von Elek- tronen zusammensetzte, von denen jedes ein etwas anderes Drehmo- ment besaß, und in jedem dieser verschiedenen Drehmomente fand sich ein winziger Teil des Bewusstseins und des Gedächtnisses dieses unfassbar komplexen Wesens.
Es müssten sich sogar Medikamente für die Seele entwickeln lassen, glaubte sie, denn eine Seele konnte krank werden und furchtbar lei- den. O ja, das konnte sie.
Sie eilte über den Dachboden, hinter ihr Johns leiser werdendes Ra- scheln, das mit einem traurigen Seufzer verklang.
Sie zog die silberne Lanzette aus dem Menschenhaut-Etui und eilte in die Küche.
Sie hatten dem Opfer Handschellen angelegt; die Frau lag auf dem Küchentisch.
»Nimm dir einen Stuhl«, sagte Miriam zu Leo. »Es ist ein ziemliches Spektakel.« Sie warf Sarah einen verärgerten Blick zu, kommentierte deren Trödelei aber nicht.
Als sie den Pulsschlag der Frau prüfte, versuchte Sarah ihre zit- ternde Hand still zu halten. Aufgrund ihres ärztlichen Wissens konnte sie genau bestimmen, welche der Halsarterien den besten Blutfluss bot.
»Was ist das für ein Instrument?«
Sarah sah Leo an, die, ihr Kinn auf die Hände gestützt, einen halben Meter entfernt von ihr saß und gefesselt zusah. Sie würde miterleben, wie ein Mensch starb, und das Einzige, was sie vorzubringen hatte, war diese überflüssige Frage. Sarahs Abneigung gegen Leo verwan- delte sich in Verachtung. Am liebsten hätte sie ihrdie Lanzette in den Hals gerammt.
Als sie Leos Frage nicht beantwortete, erklärte Miriam: »Es ist ein al- tes chirurgisches Instrument, das zum Aderlass verwendet wurde. Das
gebogene Ende sticht man in die Vene, und mit der Klinge schlitzt man sie auf. Sehr hübsch.«
»Du benutzt so etwas aber nicht.«
Mit einem trockenen Laut öffnete Miriam den Mund. Leo starrte in die trichterförmige Höhle mit der spitzen, schwarzen Zunge in der Mitte. »Ich brauche keine Lanzette«, sagte sie schmunzelnd.
»Lanzetten wurden von Tierärzten verwendet, wenn sie Pferden Blut entzogen«, sagte Sarah. »Es ist ein grausiges Werkzeug.«
»Aber es sieht wunderschön aus.«
»Ja, weil Sarah ihre Instrumente immer reinigt. Vergiss nicht, sie ist Ärztin.«
»Was empfindest du dabei?«, fragte Leo.
»Was ich dabei empfinde?«
»Beeil dich, Sarah«, sagte Miriam schnell.
Ihre Kehle würgte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aber sie ver- suchte, den Stolz eines Hüters zu empfinden und das, was sie zum Überleben tun musste, gut zu tun. Sie war schwach, zu sensibel;
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