Whitley Strieber
ausgelöst, um neue Spannungen heraufzubeschwören, hatten ihre Bestände auf Schön- heit, Intelligenz und Saftigkeit gezüchtet. Die Menschen nannten es Hungersnot und Krieg und Migration. Hüter nannten es Herdenverwal- tung.
Je länger sie darüber nachdachte, desto unbehaglicher wurde ihr zu- mute. Wie viel vom Geheimnis um die Hüter hatten die Menschen ver- standen, und wer waren diese Kreaturen? Wie konnten hirnlose Och- sen, die die Annehmlichkeiten reich gefüllter Futtertröge genossen, je- mals die Wahrheit über ihre Existenz erkennen? Besonders wenn nicht einmal einer von hunderttausend jemals mit einem Hüter in Kontakt kam? Doch Menschen waren eben keine hirnlosen Ochsen, und es war ein schwerwiegender Fehler, dies zu glauben.
Irgendwie war es ihnen mit ihren schlauen kleinen Hirnen gelungen, auf ein Geheimnis zu stoßen, das größer war als sie selbst. Sie hatten ihre verdammte Wissenschaft eingesetzt. Man hätte ihnen nie das Rad geben dürfen, geschweige denn Elektrizität und – Gott vergebe – das Flugzeug.
Aber sie hatten diese Dinge bekommen. Es machte Spaß, ihnen beim Experimentieren zuzuschauen. Und als ihre Bevölkerungszahl so dramatisch zu steigen begann, dass sie die Kontrolle zu verlieren schienen, hatten sie ihre wissenschaftlichen Fertigkeiten zu immer neuen Höhen geführt, um mehr Nahrung herstellen zu können, um schneller zu reisen und auf dem geschundenen Planeten mehr und mehr Platz für sie alle zu schaffen.
Sie selbst hatte vor rund zwanzig Jahren eine gefährliche Begeg- nung mit der Wissenschaft der Menschen gehabt. Kaum zu glauben, wie viel Ärger ihr die gute Dr. Sarah Roberts gemacht hatte. Sie hatte in einem Labor Miriams Blutprobe analysiert und war auf das Geheim- nis der Hüter gestoßen, diese schlaue kleine Füchsin.
Miriam hatte Sarahs Freund getötet und anschließend Sarah ver-
führt. Sie hatte der Frau von ihrem Blut gegeben, aber Sarah hatte sich gegen die körperliche Umwandlung gewehrt. Sie hatte sich gewei- gert, Nahrung aufzunehmen, und behauptet, dass ihr der medizinische Eid wichtiger sei als ihr Wunsch zu leben. Deswegen hatte sie kurze Zeit im Reich der Untoten verbracht, ihre Seele blieb gefangen in ih- rem langsam verfallenden Körper.
Unterdessen hatte Miriam Sarahs Forschungsberichte studiert und neue Erkenntnisse über die Synergie zwischen Hüter- und Menschen- blut gewonnen. Es war ihr gelungen, Sarah wieder zum Leben zu er- wecken.
Damit hatte sie sich eine komplexe und faszinierende Gefährtin er- schaffen. Sarah besaß ein ausgeprägtes Ehrgefühl und war absolut vertrauenswürdig. Aber jagen zu müssen behagte ihr nicht. Sie be- trachtete es als Mord.
Miriam hatte Sarah dazu gebracht, ihre geheimsten, tief in ihr verbor- genen Wünsche auszuleben und zu entdecken, wie schön sich die weiche Haut und die sinnliche Berührung einer Frau anfühlen konnten. Wenn sie miteinander ins Bett gingen, brachte Miriram sie unzählige Male zum Orgasmus, entweder mit dem sanften Druck ihrer Finger oder mit ihrer langen, forschenden Zunge.
»Wir bitten die Passagiere des Thai-Airways-Fluges Zwei-Zwei-Drei nach Bangkok, sich zum Flugsteig elf zu begeben.«
Sie begab sich zu dem Flugsteig, durch den sie in die Maschine ge- langen würde. Im Allgemeinen machte Reisen ihr viel weniger aus als anderen Hütern. Frauen ihrer Spezies reisten normalerweise nur, wenn sie während ihrer vier Fruchtbarkeitsperioden auf Partnersuche waren, und natürlich, um zu den alle einhundert Jahre stattfindenden Konklaven zu pilgern.
Miriam hatte entgegen allen Konventionen die ganze Welt bereist. Sie war auf den Geschmack gekommen und hatte Gefallen an der Welt gefunden, hatte die allmählichen Veränderungen aufmerksam be- obachtet, war durch die prächtigen Alleen des Alten Rom und die par- fümierten Säle des Sonnenkönigs geschlendert.
Sie hatte lange Zeit im Palast der Cäsaren auf dem Quirinalhügel ge- wohnt, hatte den verrückten Caligula herumschreien und sich am Blut seiner Sklaven laben gehört, die vom ständigen Stehlen seiner Pfau- enbrüste und Zebrakeulen fett geworden waren und sich so stark ver- mehrt hatten, dass Einzelne nicht vermisst wurden.
Trotz ihrer Reiselust verabscheute sie kleine Orte. Während der ost-
europäischen Krise im neunzehnten Jahrhundert, als die dort ansässi- gen Menschen kurzzeitig ihre wahren Herren erkannt hatten, waren die Hüter auf dem Balkan gezwungen gewesen, sich in Gräbern zu verstecken. Miriam war dorthin
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