Whitley Strieber
neue Herde zu gründen.
Abyra-hams Herde schien besonders überlebenstauglich, weil ihre Angehörigen besonders klug waren, doch leider hatte ihr Blut einen bitteren Nachgeschmack. Wenn man an einem Juden naschte, erin- nerte man sich noch eine Woche später daran, hatte ihr Vater zu
scherzen gepflegt.
Ursprünglich hatte es gute Gründe dafür gegeben, kluge Menschen auszuwählen. Umso klüger sie waren, desto besser waren ihre Überle- benschancen, und desto billiger wurde es, sie zu verwalten. Außerdem hatte das Blut von intelligenten Menschen ein reicheres, komplexeres Bouquet. Hüter zielten mit der Menschenzucht auf den Wohlge- schmack des Blutes ab, so wie der Traubenanbau der Menschen auf wohlschmeckende Weine abzielte.
Die Triebwerke des Flugzeugs heulten auf. Sie hasste Fliegen ge- nauso sehr, wie sie früher das Segeln gehasst hatte, aber sie tat es trotzdem, denn sie liebte es nun mal, die Welt zu erkunden. Ihr Wis- sensdurst hatte sie dazu getrieben, die Frühjahrs-Galeere von Rom nach Alexandria zu nehmen, um in der dortigen Bibliothek die Bücher zu verschlingen. Einmal war sie sogar auf der Sommer-Galeone von Spanien nach Mexiko gereist, um in die geheimnisvolle Welt der Maya einzutauchen.
Dabei war es allerdings zu Problemen gekommen. Sie hatte sich oft- mals an der gesamten Besatzung jener alten, langsamen Segelschiffe gütlich getan. Sie hatte es nie vorgehabt, aber Woche um Woche mit einer Horde süßblütiger Menschen in engen Schlafquartieren zu hau- sen war doch zu verlockend. Erst hatte sie einen vernascht, dann den zweiten, dann noch einen und noch einen, hatte sich, angefangen bei den niederen Sklaven, bis in die obersten Befehlsränge hochgearbei- tet. Sie hatte es immer aussehen lassen, als wären die Leute von Bord gefallen oder in den Freitod gesprungen. Wenn ein Sturm aufzog, hatte sie fünf oder sechs hintereinander vernascht, hatte sie ausge- lutscht wie Brausepulvertüten.
Die Schiffe, die sie nahm, liefen praktisch leer in ihre Zielhäfen ein ... leer bis auf einen übergewichtigen, im Schiffsbauch verborgenen Hü- ter. Eine ihrer besonders gefräßigen Fahrten war die an Bord eines holländischen Ost-Indien-Gewürzhandelsschiffes gewesen. In nur zwei Monaten hatte sie die gesamte fünfzigköpfige Besatzung und alle sechs Passagiere konsumiert. Sie war so mit Blut voll gestopft, dass sie fürchtete, wie ein riesiger, aufgeblasener Blutegel auszusehen. Sie war mitten in der Nacht auf dem Beiboot des Schiffes nach Surabaya gerudert. Das Schiff selbst war noch jahrelang ohne eine Seele an Bord weitergesegelt und wurde unter den Menschen als Der Fliegende Holländer zur Legende.
Der erbebende Airbus stieg in die Lüfte. Von der Sonne vergoldete
Nebelschleier hingen über der altertümlichen thailändischen Stadt. Mi- riam blickte nachdenklich auf den Tempel-Distrikt und die im Nebel ge- rade noch erkennbaren Spitztürme hinab.
Der Hunger begann, sich in ihrem Bauch festzukrallen. Ihre Muskeln spannten sich an, instinktiv einen Beutezug erwartend. Ihr Mund füllte sich mit dem säuerlichen Geschmack des Futtermangels. Jeder Atem- zug wehte den Duft frischen Menschenbluts heran.
Sie stellte die Luftdüse über ihrem Kopf auf volle Kraft, doch vor dem verheißenden Duft ihrer in diese schlanke Blechdose gestopften Mitrei- senden gab es kein Entrinnen.
Im Flugzeug auf Beutezug zu gehen war unmöglich. Wenn man die Reste der Mahlzeit in die Toilette warf, würden sie später im Auffang- tank des Flugzeugs gefunden werden. Leichenreste musste man kom- plett vernichten – gewöhnlich wurden sie verbrannt. Im Laufe der Ge- nerationen hatten die Menschen höchstens ein Dutzend ihrer Opfer gefunden und sie meist für Mumien gehalten. Genau genommen hatte sie einmal einen Zeitungsverkäufer in einen Ganzkörperverband gewi- ckelt und den Mann im Keller des Britischen Museums in einen Mumi- enkasten gelegt. Wann war das noch gleich gewesen – oh, vor ein paar hundert Jahren. Vermutlich lag er noch immer dort unten, ihr alter Zeitungsverkäufer. Er hatte an einer Straßenecke in London die St. Ja- mes Gazette feilgeboten, damals ein recht gutes Blatt.
Sieh dir nur all die Menschen hier an, dachte sie, wie sie zufrieden quasselnd dasitzen, ohne auch nur den geringsten Gedanken an den zehntausend Meter tiefen Todesschlund unter ihren Füßen zu ver- schwenden. Wie konnten Menschen nur so sorglos sein? Ständig sa- ßen sie in Flugzeugen und fuhren in Automobilen herum, setzten sich in
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